Reich der Mitte? Nicht nur. Willkommen im Reich der Gegensätze! Märchenhafte Landschaften, atemberaubende Architektur, jahrtausendealte Tradition, futuristischer Glamour, unberührte Natur und Megacitys – hier gibt es nichts, was es nicht gibt.
Der Reiseplan: Schon zu Marco Polos Zeiten waren Besucher von Chinas Landschaft und Geschichte fasziniert. Für sie war es nur deutlich beschwerlicher, das Land zu erkunden. Unser Abenteuer führt Sie vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking bis zum Flussufer des Yangshuo – per Taxi, Flugzeug oder Hochgeschwindigkeitszug. Sind Sie bereit? Dann bitte anschnallen, es wird turbulent!
Wenn die Dämmerung hereinbricht, legt sich ein besonderer Zauber über die alte Kaiserresidenz, die Verbotene Stadt. Die letzten Menschenmassen schieben sich durch die Tore, die Dächer leuchten in der Abendsonne, die Arbeiter kehren mit Weidenbesen die Plätze, und Taubenschwärme flattern über die Höfe, während sich ihr Flügelschlag mit dem entfernten Brummen des Feierabendverkehrs und der Autohupen mischt.
Der gewaltige Palast, der 72 Hektar der Pekinger Innenstadt einnimmt, wurde 1420 errichtet, um die Macht des chinesischen Kaisers zu demonstrieren. Fünf Jahrhunderte diente er als symbolisches und politisches Zentrum Chinas. Bis 1924 lebten hier 24 Kaiser der Ming- und Qing- Dynastien mit 2000 Hofangestellten, Konkubinen und Eunuchen in fast vollkommener Abgeschiedenheit. Im äußeren Hof, der hinter dem „Mauseloch“ unter Maos Bild, dem Tor des Himmlischen Friedens, beginnt, befand sich die Regierungszentrale. Hier war der Tagesablauf des Kaisers streng geregelt, jede Mahlzeit ein Staatsakt mit Brigaden von Köchen und Vorkostern. Wer die kaiserlichen Sitzmöbel und Schlafgemächer sieht, bekommt schon vom Hingucken Rückenschmerzen.
Im nördlichen inneren Hof, wo der Kaiser mit Familie samt Hofstaat lebte, ging es dagegen weniger repräsentativ zu. Doch beide Höfe sind streng nach den Regeln des Feng Shui angelegt und stecken voller versteckter Symbole: mythischen Kreaturen an den Dachrinnen, Drachen- und Phönixmotiven, den Sinnbildern für den Kaiser und die Kaiserin.
Einer Legende nach gibt es in der Verbotenen Stadt 9999 ½ Zimmer – nur ein halbes Zimmer weniger als im Himmel (tatsächlich sind es aber nur 8704). Wer sie früher ohne Erlaubnis betrat, wurde mit dem Tod bestraft. Dass sich heute Tausende Touristen darin tummeln, ist historisch betrachtet genauso erstaunlich wie die Tatsache, dass Maos Gefolgsleute beim großen Aufräumen der Kulturrevolution ausgerechnet den alten Kaisersitz verschonten.
Er thront mitten in einem Spinnennetz aus verwinkelten Gassen, Läden und Atriumhäusern, das sich spiralförmig um die Altstadt zieht: die Hutongs. Sie wurden errichtet, nachdem Dschingis Khans mongolische Armee Peking im Jahr 1215 in Schutt und Asche gelegt hatte. „Die Hutongs sind die Arterien des alten Peking“, erklärt Gao Hongzhong, Künstler und Kalligraf. Er selbst lebt in einem geschäftigen Hutong östlich der Verbotenen Stadt. „Heute wohnen die meisten in Apartmentblocks, aber das echte Peking findet man nur hier.“ Rikschas und Roller rattern vorüber, Frauen tratschen in den Hauseingängen, Männer spielen Mahjong und Kinder zwischen Wäscheleinen Fangen.
Noch in den 1950er-Jahren gab es 6000 Hutongs in Peking, doch seit 1990 wurden etwa 40 Prozent abgerissen. Einige Hutongs wie Nanluogu Xiang haben sich mit angesagten Bars, Cafés und Geschäften neu erfunden, andere dagegen werden bereits von Immobilienhaien beäugt, die sich ein Stück altes Peking schnappen wollen. „Natürlich muss China nach vorn sehen“, sagt Herr Gao, während er filigrane Schriftzeichen auf ein Pergament zeichnet. „Aber wir müssen auch die Vergangenheit erhalten. Wenn wir sie einmal verloren haben, können wir sie nicht wieder zurückholen. Und ohne sie verlieren wir aus den Augen, wer wir sind.“
Es ist weit nach Mitternacht und der Wald rund um Jiankou noch stockfinster, aber Zhao Fuquing kennt den Weg. Der Wanderführer läuft zielstrebig mit gleichmäßigen Schritten, hin und wieder hält er an, um mit der Axt eine Schneise durch die Büsche auf dem Boden zu hacken. Um ihn herum ein Gewirr aus Geräuschen des Waldes: summende Insekten, krächzende Ochsenfrösche und Vögel, die in den Baumkronen zwitschern. Plötzlich bleibt er stehen und zeigt auf eine Lücke im dichten Blattwerk, durch die die ersten Strahlen der Morgensonne brechen. Hoch über ihm liegt ein Band aus Wachtürmen und Wehranlagen, das sich über die Hügel windet. Seine Konturen heben sich vom purpurroten Nachthimmel ab.
Die Chinesische Mauer, die sich 8851,8 Kilometer entlang Chinas wilder Grenzen erstreckt, ist ein Symbol des eisernen Willens und der Macht. Die gewaltige, von Menschen geschaffene Grenze mag vielleicht nicht aus dem All zu sehen sein, wie oft behauptet wird, sie ist aber zweifellos eines der großen Wunderwerke der Antike. Genau genommen handelt es sich um keine Große Mauer, sondern um viele kleine Abschnitte, die im Verlauf von 2000 Jahren und unter wechselnden Militärkommandanten neu gebaut und stetig verändert wurden. Einige Teile bestehen aus kaum mehr als Lehm und Holz. Andere, wie der Abschnitt in Jiankou, strotzen vor steinernen Wällen, Festungen und Wachtürmen, die Namen wie „Der Adler fliegt erhobenen Hauptes“ oder „Neunäugiger Turm“ tragen.
Große Teile der Jiankou-Mauer zeigen sich heute jedoch in einem bedrohten Zustand, zu viel Wind, Regen und Schnee haben sich durch den Stein gefressen. Obwohl sie mit Pflanzen und Rissen übersät sind, stehen die meisten Wachtürme und Befestigungen noch – nur weiß keiner, wie lange. „Ich hoffe, die Mauer wird für immer hier sein“, sinniert Zhao Fuquing, der hier schon als kleiner Junge spielte, jetzt als Guide arbeitet und ein Hostel betreibt. „Aber man weiß nie, was die Natur bringt.“ Plötzlich donnert ein Felsrutsch den Hang hinab und Wolken aus Staub und Schutt taumeln ins Tal. „Sehen Sie?“, sagt Zhao und lacht leise.
Wer Chinas Zukunft als Supermacht bildlich darstellen möchte, greift gern auf Shanghais Skyline zurück. Mit Glasfasern verkabelt, durchkreuzt von neonerleuchteten Autobahnen und in ein permanentes Glühen und Blinken getaucht, ist die Stadt am Gelben Fluss der Archetyp der modernen Metropolis: schneller, reicher, dreister und geschäftiger als jede andere Stadt in China. Noch vor 20 Jahren wäre Shanghai gerade so unter die Top 50 in der Wolkenkratzer-Liga gekommen, heute liegt sie auf Platz vier – nur übertroffen von Hongkong, New York und Tokio, Tendenz steigend.
Am östlichen Ufer des Huangpu, im Hochhausbezirk Pudong, wird das Tempo des Wandels besonders deutlich: Im Jahr 1990 fand man dort noch Reisfelder, Lagerhäuser und Bootshändler. Zwei Jahrzehnte später befinden sich hier das Bankenviertel, die Börse und die spektakulärsten Wolkenkratzer: der Oriental Pearl Tower, der an Gotham erinnernde Jinmao Tower, das Shanghai World Financial Centre, liebevoll „der Flaschenöffner“ genannt, und der Shanghai Tower, der mit 632 Metern im Jahr 2014 das zweithöchste Gebäude der Welt werden soll.
Wang Yi arbeitet ehrenamtlich beim Shanghai Urban Planning Exhibition Center, wo ein maßstabsgetreues Modell der Stadt, wie sie voraussichtlich 2020 aussehen wird, den gesamten ersten Stock einnimmt. Obwohl sie noch sehr jung ist, hat Wang bereits erlebt, wie sich die Stadt bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. „Viele der Orte, die ich aus meiner Kindheit kenne, sehen heute völlig anders aus“, sagt sie. „Größtenteils verändert sich die Stadt zum Besseren, aber manchmal denke ich, es geht zu schnell.“
Nach dem Abkommen von Nanking, 1842, wurde Shanghai zu Chinas wohlhabendstem Handelshafen. Durch die Einkünfte aus dem Handel mit Seide, Tee und Opium wuchs der Reichtum der Stadt, die Horden westlicher Händler und Investoren anzog. Das Vermächtnis dieses goldenen Zeitalters ist auf dem Bund, der berühmtesten Straße Shanghais, noch deutlich spürbar, wo Artdéco-, ja sogar neogotische Gebäude die Architektur bestimmen. Für Wang Yi ist dieser Stilmix symptomatisch für Shanghais Sucht nach Veränderung. „Jedes neue Gebäude muss größer, höher und glanzvoller als die anderen sein.“ Und manchmal hat man den Eindruck, als würde das sogar gelingen.
Reis ist in China der Stoff des Lebens. Jenseits der großen Städte, im Flachland, wird jeder verfügbare Zentimeter Erde zur Kultivierung genutzt. Die Farbe der Landschaft verändert sich zeitgleich mit der Reissaison – von Giftgrün, wenn die Sprossen jung sind, dunklem Jadegrün, wenn die Pflanze reif ist, bis zu Braun, nach der Ernte. China liefert mehr als 26 Prozent der weltweiten Reisproduktion. Eine verblüffende Zahl, wenn man bedenkt, dass noch von Hand gesät, gepflegt und geerntet wird.
Hoch in den Bergen, im Norden Guangxis, liegt ein besonderes Kunstwerk: die Drachenknochen-Reisterrassen. Sie stapeln sich auf den Berghängen wie die Stockwerke einer Hochzeitstorte. Seit mehr als acht Jahrhunderten werden die gut sechs Hektar auf bis zu 1100 Meter Höhe von Menschenhand kultiviert. Liao Guozhen kann die Reisanbaugeschichte seiner Familie mindestens 700 Jahre zurückverfolgen. Mit acht Jahren begann der heute 70-Jährige, auf den Reisterrassen nahe seines Heimatdorfes Pinyan zu arbeiten. „Ich habe nie etwas anderes gelernt als den Reisanbau“, sagt er und zieht an einer krummen Zigarette, während er, bis zu den Knien im Wasser, langsam durch die nassen Felder watet. „Würde man mich jemals in eine Stadt bringen, wäre ich verloren. Aber hier weiß ich immer, was zu tun ist.“ Während er nach den Sprösslingen sieht, ziehen Nebelschwaden vom Tal herauf und nur noch einige Gipfel blitzen aus der riesigen Wolke.
Die Terrassen sind nicht nur atemberaubend schön, sie sind auch ein perfektes, in sich geschlossenes Ökosystem: Quellwasser sammelt sich in Terrassen und verdunstet, Wolken bilden sich und das Wasser regnet weiter oben am Berg wieder ab. Die Anordnung in mehreren Ebenen beugt auch Erosion vor und bietet Unterschlupf für unzählige Insekten, Vögel und Schmetterlinge.
Aber auch hier verschwinden, wie in großen Teilen des ländlichen Chinas, die alten Sitten viel zu schnell. „Alle meine Enkel sind in die Stadt gezogen“, berichtet Herr Liao. „Ich weiß nicht, was mit den Terrassen passiert, wenn niemand mehr da ist, um sie zu bearbeiten. Die Zukunft ist unsicher, aber wir haben immer einen Weg gefunden, zu überleben.“
Yangshuo ist ein bunter Flickenteppich aus Gipfeln, Ebenen, Bächen und Schluchten. Hierher kommen Städter, wenn es sie nach Outdoor dürstet. Die Landschaft am Ufer der Flüsse Yulong und Li ist im ganzen Land bekannt: Sie ist auf dem 20-Yuan-Schein abgebildet. Übersät mit Karstsäulen, einfachen Dörfern und zauberhaften Wegen findet man hier eine idyllische Märchenkulisse, die Welten von Chinas im Verkehr erstickenden Großstädten entfernt ist. Wenn zwischendrin ein paar Hobbits herumspringen würden, würde das vermutlich auch niemanden wundern.
Jahrhundertelang dominierten die beiden Flüsse das Leben in Yangshuo. Während des Monsuns verschwinden Flussebenen und Reisfelder nahezu komplett im Wasser. Im Hochsommer dagegen vertrocknen viele Bäche und ihre Zuflüsse zu kleinen Rinnsälen. Als es weder Autobahnen noch Hochgeschwindigkeitszüge gab, waren die Flüsse die einzigen Verkehrswege. Auch heute sieht man noch viele traditionelle Bambusflöße – obwohl im Zweifelsfall eher Touristen als Handelswaren transportiert werden. Wahrscheinlich ist es auch dem Tourismus zu verdanken, dass eine alte Tradition erhalten geblieben ist: die Kormoranfischerei. Die Fischer trainieren zahme Kormorane und legen ihnen Ringe oder Schnüre um den Hals, die ihnen erlauben, kleine Fische zu schlucken, aber verhindern, dass sie die größeren verspeisen.
Noch 1950 arbeiteten 500 Kormoranfischer auf dem Li, jetzt gibt es gerade mal eine Handvoll, die die „Touristenattraktion“ betreiben. Großvater Huang, ein rüstiger 86-Jähriger in weiter Hose, Filzmantel und Bambushut, ist einer der letzten. Er hat den Beruf von seinem Vater gelernt. „Kormorane sind kluge Tiere“, erklärt er, „jeder hat einen eigenen Charakter. Manche sind fleißig, andere faul. Sie können viele verschiedene Befehle verstehen und einige sogar Schimpfworte“, lacht er.
Etwas weiter entfernt treiben ein paar Touristen auf Flößen den Yulong hinunter. Der Steuermann zeigt ihnen Brandgänse im seichten Wasser, Wasserbüffel und einen Reiher, der sich im Schilf versteckt. In der Ferne ragen die imposanten Kalksteinsäulen in den Himmel, weißer Nebel verhüllt die Spitzen. Und wer weiß, vielleicht ziehen die Beutlins irgendwann tatsächlich nach Yangshuo …
Text: Oliver Berry
Peking
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