ReportageIndien: Der König der Schienen

© Lonely Planet Traveller
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Indien per Bahn bereisen? Kennt man. Indien per Luxusbahn? Eher nicht. Steigen Sie ein in den edlen Maharajas’ Express und fahren Sie zu Palästen, Tempeln und Tigern.

Schon am frühen Vormittag ist es auf dem Bahnhof von Lucknow heiß wie in einem Backofen. Und unfassbar chaotisch. Scharen von Gepäckträgern bugsieren zerbeulte Koffer und Jutesäcke durch die Menschenmenge. Im Minutentakt quellen Pendler und Reisende aus völlig überfüllten Waggons. Dazwischen wuseln streunende Hunde und heilige Kühe, barfüßige Priester, blinde Bettler und fliegende Händler, die Paan-Brot und Samosa-Teigtaschen verkaufen.

Die Züge der indischen Bahn sind für gewöhnlich kein Aushängeschild für komfortables Reisen. Wobei das über 65.000 Kilometer lange Schienennetz durchaus Vorzüge hat: Günstig, verlässlich und meist sicher erreicht man selbst die entlegensten Orte des riesigen Subkontinents. Der Maharajas’ Express hingegen, der mitten in der Rushhour auf Gleis 5 in der Metropole Lucknow einrollt, bietet etwas völlig anderes: Halb Lokomotive, halb Zeitmaschine versetzt der leuchtend rote Luxuszug seine Gäste in die prunkvolle Welt der Maharajas, der einstigen Großfürsten zurück. Und fährt sie zu den prächtigsten Zielen des Landes. Zwischen den beiden Weltkriegen protzten die indischen Herrscher nur so mit ihrem Reichtum, mit Juwelen und maßgefertigten Rolls-Royce-Karossen.

Besonderen Ehrgeiz entwickelten sie bei ihrem Projekt, einen Palast auf Rädern zu bauen. Denn damit ließen sich gleich mehrere Probleme lösen: Die hungernden Untertanen hielten sich mit der Arbeit beim Schienenbau über Wasser, während man die eigenen Territorien in standesgemäßem Ambiente inspizieren konnte. Am besten aber eignete sich der Nobelzug, um andere Fürsten zu beeindrucken. Was mitunter in ein bizarres Wettrüsten ausuferte: Billardtische, Bibliotheken und Musikzimmer samt Flügel gehörten quasi zur Serienausstattung. Ventilatoren, die große Eisblöcke kühlten, waren das Nonplusultra in Sachen Klima­tisierung. Der Nizam von Hyderabad, einst einer der reichsten Männer der Welt, ließ seinen Waggon gar vergolden und mit Elfenbein verzieren. Und der Maharaja von Baroda zuckelte auf einem eigens im Zug aufgestellten Thron durch die Lande. Im Maharajas’ Express, seit 2010 auf den Gleisen, können solvente Gäste die Dekadenz von einst nun wieder erleben. Fünf verschiedene Routen stehen für das Luxus-Sightseeing per Bahn zur Wahl. Das Wohlfühlprogramm beginnt bereits beim Check-in.

Im Bahnhof Safdarjung in Delhi, wo wir die Reise vor fünf Tagen begonnen haben, werden die Passagiere von schönen Frauen in bunten Saris mit Rosenblüten bestreut, ehe livrierte Pagen sie über einen roten Teppich in ihre Abteile führen. In den 14 Waggons des rollenden Nobelhotels gibt es 43 Suiten – die Präsidenten-­Suite sogar inklusive Badewanne –, zwei Restaurants sowie eine Bar, Boutique und einen Club-Raum mit feinen Ledersesseln. Sanftes Licht sorgt für eine entsprechend gediegene Atmosphäre, Fernseher, Telefon und Internet in den Kabinen für zeitgemäßen Komfort.

Am ersten Tag der Reise wird uns ein Waggon namens Hakik zugeteilt. Als wir vor unserer Kabine stehen, erscheint wie aus dem Nichts ein Page in weißer Kurta, Weste und Turban. Er stellt sich als „Nickinson“ vor und ermutigt uns, selbst die außergewöhnlichsten Wünsche zu äußern. Dann zeigt er auf eine Art Besenkammer neben unserer Suite. „Hier wohne ich. Ich  stehe Tag und Nacht zu Ihren Diensten.“ Als wir ihn nach seinem Leben an Bord fragen, sieht er uns mit großen Augen an: „Es gefällt mir sehr. Zum ersten Mal sehe ich mein Land! Und wenn ich heimkehre, erzähle ich meiner Familie von der Welt des Maharajas’ Express.“ Im Unterschied zu seiner bescheidenen Bleibe bietet unser Abteil den Komfort, nach dem wir uns ein Reiseleben lang gesehnt haben. Dekoriert mit feinen Webstoffen, blankem Messing und dunklem Mahagoni erscheint der Raum nicht im Geringsten pompös,  sondern dezent vornehm – eigentlich gerade richtig. 

Als der Zug langsam den Bahnhof verlässt, fahren wir durch die Vororte der 11-Millionen-Metropole Delhi. In diesem Moment fühlt man sich wie in einer Art surrealer Blase, an der die harte Realität Indiens wie ein Film vorbeizieht. Hinter dem Panoramafenster sehen wir streunende Hunde, Lumpensammler und Kinder, die halbnackt vor maroden Wellblechhütten kauern. Nach und nach wird die Landschaft dann  offener. Und wunderschön. Wir rollen an sattgrünen Reisfeldern vorbei, erblicken Ochsenpflüge und  Wasserbüffel, auf deren Rücken grazile Reiher sitzen. Alles ist in ein weiches, diesiges Licht getaucht. Bald lässt das monotone Rattern des Zuges nach und wir fahren in den Bahnhof von Agra ein. In der früheren Hauptstadt der Moguln-Dynastie steht das Taj Mahal, die größte architektonische Liebeserklärung der Welt. Zunächst ist Agra aber vor allem laut, pulsierend und unnachgiebig. Allein das Ausmaß des Chaos, die beißenden Gerüche der Mughlai-Küche, das Durch­einander auf den Chowks, den Marktplätzen, machen den Besuch zu einem großartigen sinnlichen Erlebnis. 

Der erste Ausflug führt uns nach Agra Fort, einer wuchtigen Festung am Ufer des Yamuna Flusses. Sie stammt noch aus der Zeit der Mogulkaiser. In den Schatzkammern des Forts wurde im 16. Jahrhundert der legendäre Koh-i-Noor-Diamant aufbewahrt, mittlerweile ist er Teil der britischen Kronjuwelen. Hier sperrte der skrupellose Muslim-Herrscher Aurangzeb nach der Machtübernahme seinen Vater Shah Jahan ein. Noch dazu in einem Quartier mit Blick auf das Taj Mahal, das Jahan für seine geliebte Frau Mumtaz Mahal als letzte Ruhestätte hatte errichten lassen. Sie starb bei der Geburt ihres 14. Kindes. Im Kontrast zur Schwere des Forts strahlt das Mausoleum aus weißem Marmor eine geradezu himmlische Leichtigkeit aus. Das Taj Mahal ist ein Gebäude, das man immer wieder besuchen kann und jedes Mal anders erlebt. Bei unserem Besuch ist es in dichte Nebelschwaden gehüllt. Die Marmorkuppel, die Minarette und Kaligrafien tauchen kurz auf und verschwinden wieder – wie ein Zauberpalast aus dem Traum eines Kindes.

Am zweiten Tag unserer Schienen-Kreuzfahrt steht die Metropole Gwalior im Bundesstaat Madhya Pradesh auf dem Programm. Hier herrschte im 18. Jahrhundert die Scindia-Dynastie. Die Stadt ist übersät mit Tempeln, Palästen und Forts. Darunter Gwalior Fort, eines der monumentalsten Bollwerke Indiens. Mit seinen gelben Sandsteinmauern und Wachtürmen thront es auf einem 100 Meter hohen Plateau über der Stadt und bietet einen famosen Ausblick auf die umliegende Ebene. Überraschenderweise begeistern sich aus­gerechnet Mathematiker für das Fort. Innerhalb der Festung steht ein kleiner Tempel aus dem 9. Jahr­hundert. In einen Stein eingeritzt findet man hier den frühesten Nachweis für den Gebrauch der Zahl Null. Unten in der Stadt besuchen wir noch den Jai Vilas Mahal, einen 140 Jahre alten Palast im toskanisch- korinthischen Stil, angeblich inspiriert von Versaille. Höhepunkt im Inneren der Villa: der mächtige Ess­tisch im Speisesaal, den eine Modelleisenbahn aus purem Silber umkreist. Sie transportierte einst Cognac und Zigarren für die Gäste des Maharajas Jayajirao.

In der mit Gold verkleideten Durbar Hall hängen zudem zwei der größten, jemals gefertigten belgischen Kronleuchter. Angeblich wurden zum Test acht Elefanten an die Decke gehängt, um sicherzustellen, dass sie das Gewicht der Lüster tragen würde. Zurück im Maharajas’ Express treibt uns der Hunger in den Speisewagen. Dort kommen wir mit Küchenchef Sanaj Madhavan ins Gespräch. Er verwöhnte schon Gäste in der amerikanischen Botschaft in Moskau und auf Kreuzfahrtschiffen. Jeden Tag kochen er und seine Souchefs im Zug mit frischen Zutaten – eine organisatorische Meisterleistung. „Unsere Gäste erwarten das Beste vom Besten.“ Wir essen ein hervorragendes Lamm-Curry und gehen danach auf einen Absacker in die „Safari Bar“. Am späten Abend ist nicht mehr viel los. Allein eine attraktive junge Frau sitzt noch bei einem Weißwein in einem der Ledersessel und blättert versunken in einem Buch über Maharajas. Kari Litzmann, wie sich herausstellt, eine amerikanische Designerin aus New York. „So einen Zug erlebt man ja sonst nur in solchen Bildbänden oder in alten Filmen“, meint sie. Tatsächlich mit ihm zu reisen, sei, als würde man leibhaftig in eine Fantasiewelt eintreten. Während ihrer Arbeit mit indischen Designern habe sie den opulenten Stil der Maharajas schätzen gelernt. „Mit ihren Reichtümern konnten die Prinzen ihre wildesten Träume verwirk­lichen.“ Was sie dabei immer wieder verblüfft, sei, wie geschmackvoll ihre Kreationen waren – kein Vergleich zu den Reichen von heute. In unserem Zimmer liegen an diesem Abend kleine Schokoladentäfelchen auf den Gänsedaunenkissen. Wir legen uns müde in die Betten und lassen uns von unserem Luxus-Express sanft in den Schlaf wiegen. Nach dem Frühstück schlängelt sich der Zug durch Nebelschwaden nach Orchha. In der Stadt, die vor 500 Jahren am Ufer des Betwa-Flusses gegründet wurde, kann man den spektakulären Palast des Mughal-Herrschers Jehangir bestaunen. Obwohl es 22 Jahre dauerte, den Prachtbau zu errichten, verbrachte er nur eine einzige Nacht dort. Nächste Station sind die berühmten Tempelanlagen von Khajuraho. Die über 1000 Jahre alten erotischen Steinreliefs an den Außenmauern zeigen Sex in allen Varianten: Orgien, Nymphen, eine Gestalt, die sich mit einem Pferd vergnügt. Überwuchert und verlassen wurden sie im 19. Jahrhundert von dem britischen Ingenieur T. S. Burt wiederentdeckt.

Vier Tage sind wir nun schon mit dem Maharajas’ Express unterwegs. Man kann sich an den Rundum- Service an Bord wirklich gut gewöhnen. Heute weckt uns ein Page mit Ingwertee und frischen Keksen, die der Patissier in der Nacht gebacken hat. Eine kleine Stärkung für den nächsten Ausflug. Auf dem Programm steht Bandhavgarh, ein Nationalpark mit hoher Tigerdichte. In einem offenen Jeep, eingehüllt in Wolldecken, fahren wir kreuz und quer durch einen Wald – bis das Auto plötzlich stoppt. Zwei Elefanten mit Sänften auf dem Rücken werden aus dem Unterholz geführt. Wir klettern hinauf und schaukeln sanft durch den Busch auf ein Bambus­dickicht zu. Dann zeigt unser Guide auf etwas Röt­liches, unweit vor uns. Wie bestellt entdecken wir drei Tiger, eine Mutter mit ihren zwei Jungen. Erst sind sie nur schemenhaft zu erkennen. Als unsere Elefanten sich den Tieren bis auf wenige Schritte genähert haben, können wir die Tigerbabys von unserem Hochsitz aus beim Herumtollen beobachten. Später, als sich der Zug auf den Weg nach Varanasi macht, nehmen wir im Rang-Mahal-Speisewagen Platz. Einige der Gäste sind in leise Unterhaltungen vertieft. An den sorgfältig gedeckten Tischen sitzen ame­rikanische Rentner, russische Oligarchen, Großunternehmer und Finanzbosse. Vermuten wir jedenfalls. Wir lernen ein frisch verheiratetes Paar aus Rajasthan kennen. Jairaj und Anchal haben die Zugfahrt als Hochzeitsreise gebucht und strahlen eine gute Erziehung und Kultiviertheit aus. Jairaj – er trägt ein Tweed-Jacket zur Jodpurhose und ist selbst Spross eines Prinzen – wuchs im Familien­stammsitz Chhatra Sagar auf, der rund 100 Kilometer östlich der Stadt Jodhpur liegt. In der palastartigen Festung können Touristen heute in Luxuszelten wohnen und Vogelbeobachtungs-Touren buchen. „Dieser Zug ist wie ein Schnappschuss aus einer anderen Welt“, sagt er. Sein Großvater und sein Vater hätten sich problemlos in die Szenerie eingefügt. „Aber die Zeiten haben sich geändert.“

Die folgende Nacht ist sternenklar. Wir ziehen neugierig die Jalousie unseres Fensters hoch und blicken hinaus in das wahre Indien. In ein Land, das niemals still steht. Monoton rollt unser Express durch die Dunkelheit von einem Bahnhof zum nächsten. Auf geisterhaften Bahnsteigen sitzen schlafende, in Wolldecken gehüllte Menschen. Man sieht Suppenverkäufer, Schaffner und Arbeiter mit eingefallenen Gesichtern, die in Sackleinen verschnürte, dicke Pakete bewachen. Und immer wieder fahren Züge ein. Es sind schlangenartige Depots, die Reisende in alle Himmelsrichtungen verteilen. Wie in einer von höheren Mächten dirigierten Choreografie. Das Rückgrat der 1,2 Milliarden Menschen dieses Landes. Varanasi, eine der letzten Stationen der Reise, ist für viele gläubige Inder das Ziel ihrer Träume. Die heiligste Stadt der Hindus an den Ufern des Ganges verändert den Blick auf die Welt. Hier waschen sich Pilger im Fluss von ihren Sünden rein, hier werden Leben und Tod gleichermaßen verehrt. Wer in Varanasi stirbt, wird von dem unendlichen Kreislauf der Wieder­geburt erlöst. Sehnlichster Wunsch vieler Inder ist es, dass ihre Asche in die Wellen des heiligen Ganges gestreut wird. In dieser Stadt, die nichts für schwache Nerven ist, erlebt man die Menschheit intensiv. Auf dem Weg hinunter zum Fluss betreten wir Tempel, zum Bersten voll mit Gläubigen und umwabert von Düften. Man trifft Touristen aus aller Welt, staunt über Kühe, die seelenruhig durch den lärmenden Verkehr trotten. Und man begegnet Trauerprozessionen, die Verstorbene durch die Menschenmassen zum heiligen Strom tragen. Dort unten an den Ghats, den weitläufigen Ufer-Treppen, besteigen wir kleine Boote und lassen uns den Fluss hinunterrudern. Rauchschwaden steigen von aufgetürmten Holz­scheiten in den Himmel. Auf einigen sind Verstorbene in grell­farbenen Tüchern aufgebahrt. Als unsere Reisegruppe abends wieder die Abteile des Luxus­zuges bezieht, ist bei allen Erleichterung zu spüren, Am nächsten Morgen weckt uns Nickinson wie immer mit einer Tasse dampfendem Kaffee: „Gleich erreichen wir den Bahnhof Lucknow“, sagt er und rückt seinen Turban zurecht. „Die Stadt der Nawabs, der muslimischen Maharajas.“ Beim Anblick der chaotisch hin und her eilenden Menschen denken wir kurz daran, einfach im Bett zu bleiben. Doch Nickinson, der offenbar Gedanken lesen kann, muntert uns auf: „Wir haben das Beste für das Finale aufbewahrt. Lucknow ist magisch! Treten Sie ein – und alle Ihre Wünsche werden in Erfüllung gehen.“

 

Text: Oliver Smith und Camilla Péus

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