Von jeher hat es Abenteurer und Glückssucher in die wilde Arktis nach Spitzbergen gezogen. Folge ihren Spuren bis in den äußersten Norden Europas – und ziehe dich warm an!
Hermann Ritter in einem Brief an seine Frau
An einem brütend heißen Julitag des Jahres 1934 verabschiedete sich Christiane Ritter von ihrer Familie und ihren Hausangestellten und machte sich auf den Weg nach Hamburg, wo sie – eingemummelt in einem Skianzug – an Bord eines Schiffes zum Ende der Welt ging. Sie hatte eine Verabredung mit ihrem Ehemann.
Die vergangenen drei Jahre hatte Hermann Ritter als Pelzjäger auf Spitzbergen verbracht, einer norwegischen Inselgruppe, die in jeder Hinsicht dem Nordpol näher liegt als dem komfortablen Zuhause des Ehepaars in Wien. Ihre Reise zu ihm würde mehrere Wochen in Anspruch nehmen, aber an deren Ende stand die Aussicht auf eine gemütliche Hütte sowie Tage voller Lesen, Schreiben und Malen, behaglich und sicher an einem wärmenden Feuer.
Heutzutage stellt die Reise keine so große Herausforderung mehr dar, am ersten Anblick von Spitzbergen hat sich jedoch seit der Zeit von Christiane Ritter vermutlich nichts verändert. Die Aussicht aus dem Flugzeug, drei Stunden nach Abflug von Oslo, präsentiert sich als endloses Weiß, mit spitz zulaufenden weißen Berggipfeln, die über breite weiße Täler hinausragen, bis an den Horizont. Es sind keine Anzeichen menschlichen Lebens zu erkennen, ja nicht einmal ein Stückchen Land, auf dem man sich halbwegs gut versorgen könnte.
Trotzdem kamen die Menschen. Tollkühne Europäer rochen das Geld und folgten seinem Lockruf. Seit Willem Barentsz das Archipel im 16. Jahrhundert auf seiner Suche nach einer Nordpassage nach China entdeckte, kehrten Seeleute mit Geschichten über den nördlichen Garten Eden zurück, wo es vor Eisbären, Polarfüchsen und Rentieren nur so wimmle und wo man nur eine Hand ins Meer halten müsse, um einen Seehund oder ein Walross zu fangen.
Es folgte ein Ansturm von Jagdexpeditionen, die so erfolgreich waren, dass schon innerhalb weniger Jahrzehnte der Nordkaper, eine große Walart, hier nicht mehr zu finden war. Zur Zeit, als Christiane Ritter im Kongsfjord auf der Insel Spitzbergen von Bord ging, war dieses Gebiet aus einem ganz anderen Grund attraktiv: die Belohnung für die Reise bestand nicht nur mehr aus den Pelzen für die Salons von Paris, Berlin und London, sondern aus dem Abenteuer der Reise selbst.
Christiane Ritter, Eine Frau erlebt die Polarnacht (1938)
„Es war nicht mein Plan, nach Spitzbergen zu kommen“, sagt Piotr Damski, während er die Tür vor dem dröhnenden Wind verschließt. Seine Stiefel hinterlassen auf dem rauen Bretterboden der Hütte eine Schneespur. „Ich wollte eigentlich nach Panama zum Tauchen, aber dann bekam ich hier einen Job angeboten und ich hab es mir anders überlegt.“
Der Pole Piotr arbeitet als Hundepfleger und Schlittenführer in der „Trapper’s Station“, zehn Kilometer von der Hauptstadt Longyearbyen entfernt. Er folgte demselben Impuls wie Christiane Ritter: dem unwiderstehlichen Ruf der Arktis. Die Station ist eine Reproduktion einer Originalhütte. Sie besteht aus Wrackholz und ist mit Filz ausgestattet. Ein uriger Ort mit Tierfellen auf den Sofas, Laternen vor den Fenstern und einem wackeligen Esstisch, der sich regelmäßig unter vollen Tellern mit Rentiereintopf und Waffeln biegt. Ein Versuch, die schlimmsten Aspekte des Winters zu vertreiben.
Für die Pelzjäger war es meist weniger gemütlich. Viele gingen an Skorbut zugrunde, verhungerten aufgrund missglückter Jadgen, stürzten in Eisspalten oder wurden von Eisbären attackiert. Andere fielen, überwältigt von der unendliche Kälte, Finsternis und Einsamkeit, dem „ishavet kaller“ (dem Ruf des Nordpols) zum Opfer, einem unwiderstehlichen Drang, sich in den Ozean zu begeben und in den Wellen zu verschwinden. Auch Christiane Ritter spürte, in einer eiskalten, undichten Unterkunft, viele Tagesreisen von anderen Menschen entfernt, oft die Anwesenheit eines Geistes, der lautlos aus der Bucht hinter der Hütte aufstieg und sie zurück zur Küste ziehen wollte. Die zwölf Monate, die sie mit der Polarnacht und langen Hungerperioden kämpfend auf Spitzbergen verbrachte, waren nicht wirklich das, was sie sich beim Packen ihrer Koffer in Wien ausgemalt hatte.
„Es ist hart. Es ist ein ständiger Kampf“, sagt Piotr, während er uns Kaffee einschenkt. Sein Atem bildet in der Luft kleine Wölkchen, obwohl er ganz nah am zischenden Ofen sitzt. „Ich finde es aber schön, dass ich hier, ganz egal was passiert, auf mich selbst vertrauen kann. Die beste Erfahrung ist es, deine Grenzen zu erkunden, in der Wildnis und in der Natur zu sein.“
Der Schnee klettert draußen die Fenster hoch und wirbelt um die Hütte. Drei Seehundgerippe, die an einem Holzrahmen hängen, sind eine Art makabre Warnung an andere Seehunde, die hier vorbeikommen. Wenn sie getrocknet sind, werden sie unter den hundert Hunden, die hier an der Station leben und arbeiten, verteilt. Sie bringen Besucher für kurze Touren in die umliegenden Hügel oder sind auf mehrtägigen Expeditionen für die Beförderung zuständig.
Während Piotr einen kräftigen Husky zu einem Schlitten führt und ihm das Geschirr anlegt, erhebt sich rund um uns ein freudiger Lärm. Hunde zerren an ihren Ketten, springen auf ihre Hütten, um einen besseren Blick zu erhaschen und erzeugen eine Kakofonie aus Geheul und Gebell. Sie wollen hinaus. „Für die Pelzjäger“, sagt Piotr, während er dem letzten Hund seines Teams die Zügel anlegt, „waren Hunde alles: ihr einziger Freund, ihr Transportmittel, ein Warnsystem gegen Eisbären. Und eigentlich ist es noch immer so: Wenn du draußen bist, vertraust du darauf, dass sie dich wieder nach Hause bringen.
“Vor den Toren des Geländes gewinnt ein Schneesturm an Kraft. Die Augen finden keinen Halt, alles ist eine riesige, blendende Leere aus Luft und Land, ohne Trennlinie dazwischen. „Siehst du“, sagt Piotr fröhlich. „Man bekommt das Gefühl, dass Menschen wirklich nicht hierher gehören“. Dann löst er seine Bremse. Der Schlitten schießt los, die Hunde und er preschen klappernd ins Tal.
Christiane Ritter, Eine Frau erlebt die Polarnacht (1938)
Nils Ingvar Egeland stammt aus dem Süden von Norwegen. Er hat stahlblaue Augen, einen roten Bart und einen hochgewachsenen Körper, der in einem braunen Wollpullover und einer Skihose mit Hosenträgern steckt. Er hat auch diese Art von Händedruck, die Knochen brechen kann. Seine abwechslungsreiche Vergangenheit als Fischer und Pelzjäger in Grönland macht ihn genau zu der Person, die man auf einer 225 Kilometer langen Schneescooterreise durch die Arktis vor sich haben will.
Die Stürme der letzten Tage sind weitergezogen. Vor Kurzem ist den wintermüden Einwohnern von Longyearbyen zum ersten Mal seit fünf Monaten die Sonne erschienen. Und sie strahlt. Plötzlich wird Spitzbergen enthüllt: es ist golden und zauberhaft. Wir ziehen durch ein breites Gletscherbecken, an dessen beiden Seiten Berge emporragen. Die Gipfel heben sich deutlich gegen die klare, himmelsblaue Luft ab. Auf einem Bergkamm erstreckt sich vor uns ein weiteres, unglaublich breites Tal und dahinter liegen noch mehr Berge, noch mehr Täler.
Text: Amanda Canning, Fotografie: Jonathan Gregson
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