Unfassbar grün, landschaftlich einzigartig und voller endemischer Wildtiere - so präsentiert sich Äthiopien den Wanderern im Simien-Gebirge.
Äthiopien ist ein Land zahlreicher Legenden und Geheimnisse. Die Königin von Saba und die verschollen geglaubte Bundeslade mit den zehn christlichen Geboten gehören zu den bekanntesten. Aber selbst das ist längst nicht alles, was das Land am Horn von Afrika ausmacht. Insbesondere die Landschaft und Tierwelt sind faszinierend. Im hohen Norden liegt das Simien-Gebirge - eine der ältesten UNESCO Weltnaturerbestätten. Es bildet eine mystische Welt aus Urwäldern und nebligen Gipfeln, bizarren Pflanzen und exotischen Tieren. Das Wandern in diesem atemberaubenden Hochland ist wie das Betreten eines jenseitigen Paradieses.
Durch gewaltige Vulkanausbrüche vor über 40 Millionen Jahren entstand die Gebirgskette des Simien, die sich in Nordäthiopien auf über 4.500 Meter erhebt. Über Jahrtausende hinweg haben erosive Kräfte die dramatisch gezackten Zinnen und abyssisch tiefen Schluchten geformt. Fünf- bis zehntägige Wanderungen entlang hoch aufragender Steilwände, über Wiesen und durch das fruchtbare Tiefland sind der beste Weg, um die erstaunliche Vielfalt dieser einzigartigen Landschaft zu genießen. Ein großer Teil davon ist heute als Simien Mountains National Park geschützt.
Steile Anstiege führen zu üppigen Hochebenen mit riesigen Feldern von Lobelien. Im Gegensatz zu ihren europäischen Schwestern werden die äthiopischen Exemplare dieser fleischblättrigen Pflanzen bis zu 3 m hoch. Kein Wunder, dass sie den Eindruck erwecken, jeden Moment könnten Dinosaurier aus ihrem Dickicht hervorbrechen. Die Landschaft bietet sagenhafte Ausblicke auf steile Gipfel, tosend hinabstürzende Wasserfälle und bizarr geformte Felsentürme, die aus den bewaldeten Tälern herausragen. Nebelbänder wallen gespenstig über den Boden in den Niederungen, Geier und Raben kreuzen den blauen Himmel. Es ist eine seltsam betörende, schöne und noch ursprüngliche Welt.
Die Landschaft erfährt eine dramatische Veränderung, wenn sie aus den hohen Bergketten in das Tiefland hinabfällt. Wobei hier Tiefland eigentlich eine Fehlbezeichnung ist - die Täler liegen immer noch auf Höhen über 2.000 Metern. Flammende Meere der Glühenden Pokerpflanze bedecken soweit das Auge reicht die Berghänge. Gigantische Kaktusbäume und Haine voller Aloe Vera säumen die Wege. Die kultivierten Felder mit gelben Rapsblüten und federgrüner Zwerghirse sind von riesigen Ficusbäumen und tropischen Palmen umsäumt.
Die Fauna im Hochland von Äthiopien ist voll seltener und exotischer Wildtiere. Hier leben die seltenen Gelada, auch bekannt als Dschelada oder Blutbrustpaviane. Der scheue äthiopische Wolf, der majestätische Walia-Steinbock und der riesige Lammergeier, ein Bartgeier mit einer Flügelspannweite von 3 Metern, sind hier ebenfalls endemisch. Es bestehen gute Chancen, all diese äußerst seltenen Wildtiere und viele weitere Tierarten auf einer Wanderung durch das Simien-Gebirge zu entdecken.
Mit ihren ausdrucksstarken Gesichtern, verspielten Possen und prächtigen Silbermähnen sind die Geladas einzigartig. Früher fast vom Aussterben bedroht, sind sie heute eine streng geschützte Art, die ausschließlich in den Simiens vorkommt. Sie leben in Gruppen von einhundert oder mehr Tieren und bevorzugen die geschützte Böschung, wo sie wie Akrobaten über die Felsklippen hinwegklettern. Im Gegensatz zu den meisten Primaten, die ihre Paarungsbereitschaft mit geschwollenen, roten Gesäß anzeigen, haben die Gelada einen scharlachroten Hautfleck auf der Brust. Bei den Einheimischen heißen sie deswegen "blutendes Herz". In der Umgebung von Sankabar (auf 3.600 Metern Höhe) und Chenek (3.620 Meter) ist es gut möglich, sich ihnen vorsichtig zu nähern.
Tatsächlich ist der äthiopische Wolf, auch Simienfuchs genannt, sogar der seltenste Vertreter der Canidae des ganzen Planeten mit einer geschätzten Population von weniger als 50 Exemplaren im Simien-Gebirge und nicht mehr als insgesamt 400 in ganz Äthiopien. Die meisten Exemplare leben im Bale Mountains Nationalpark in Südäthiopien. Die Hauptbedrohung für das Überleben der Wölfe besteht in der Zerstörung ihres Lebensraums aufgrund der landwirtschaftlichen Expansion in die afro-alpine Zone.
Die Erschöpfung des Lebensraums hat sich auch auf den gefährdeten Walia-Steinbock ausgewirkt, eine weitere in dieser Region endemische Art. Der seltene Steinbock sieht aus wie ein großes Reh mit beeindruckend langen, geriffelten Hörnern. Er gehört zur Familie der Ziegen und mag steile, felsige Orte. Mit etwas Glück kann man die Tiere in Chenek beobachten, während sie auf den fast senkrechten Felswänden grasen.
Aufgrund seiner Größe wird das mächtige Bergmassiv des Simien-Gebirges poetisch auch als das "Dach Afrikas" bezeichnet. Der Ras Dashen ist mit seinen 4.543 Metern der höchste Berg Äthiopiens und auch landschaftlich die Krönung des Staates. Das Trekking zum Gipfel ist herausfordernd. Gestartet wird in der Regel vom Dorf Ambiko an der Meshehe auf 3.170 Metern - und zwar lange vor Sonnenaufgang.
Die ersten Stunden der Wanderung sind kalt, dunkel und in Stille gehüllt. Lichter markieren einen Weg, der 10 Kilometer lang stetig nach oben führt, durch Ackerland, riesige Lobelienwälder und über Almwiesen. Nach sechs Stunden ununterbrochenen Wanderns führt schließlich ein kurzer Kletterabschnitt an einer Felswand hinauf zum Gipfel. Die Aussicht ist phänomenal: Der Blick fällt auf ein atemberaubendes Panorama von Gipfeln und Schluchten, Ackerland und Wäldern, die sich bis in den fernen Dunst von Eritrea erstrecken.
Die trockenste Zeit des Jahres und ideal zum Wandern ist der Zeitraum von Dezember bis März. Am Ende der Regenzeit, im Oktober, ist das Land jedoch am grünsten und schönsten. Meere aus Wildblumen blühen im August und halten bis weit in den Oktober hinein. Organisierte Trekkingtouren kümmern sich um die komplette Logistik - von der Ausrüstung bis zu den Genehmigungen. Aber auch ein unabhängiges Trekking ist nicht allzu schwierig zu arrangieren. Am Hauptsitz des Simien Mountains National Park in Debark kann man bequem alles Erforderliche selbst organisieren: Tickets kaufen, Transport und Abholung an den Zugangspunkten der Wege arrangieren sowie alles und jeden von Campingausrüstung über Führer, Scouts und Köche bis zu Maultieren mieten.
Nach den bestehenden Parkbestimmungen müssen Scouts in Form von bewaffneten Parkwächtern die Wanderer begleiten, obwohl die größte tatsächliche Gefahr in der Höhenkrankheit besteht. Die Parkscouts sind fit, drahtig und oftmals Kriegsveteranen. Mit ihren AK-47 Kalaschnikows auf den Schultern schlendern sie in ihren schlecht sitzenden Plastiksandalen die steilen Hänge hinauf und schwingen bereitwillig ihre Gewehre für Schnappschüsse mit der Kamera.
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Original-Artikel: Olivia Pozzan/Lonely Planet international
Deutsche Fassung: Ines Wagner