Auf den Inseln am südlichen Zipfel Japans leben erstaunlich viele Hochbetagte, ein Phänomen, das nicht nur Ärzte fasziniert. Was macht die Menschen dort so gesund und glücklich? Eine Spurensuche in Fernost im Okinawa-Archipel.
Früher stand Frau Kajigu immer um fünf Uhr am Morgen auf. Jetzt, mit 104, darf sie ausschlafen – nur nicht an den beiden Wochentagen, an denen sie den Wecker stellt, um den Bus zu erwischen, der rund um das Inselchen Taketomi fährt und die Mitglieder des Seniorenclubs einsammelt. Nirgendwo sonst auf der Welt leben mehr Hundertjährige als in Japan. Aber auf den südlichen Inseln des Okinawa-Archipels werden die Menschen selbst für japanische Verhältnisse ungewöhnlich alt. Frau Kajigu sitzt in ihrem geräumigen Haus mit geschnitzten Angama-Masken an den Wänden. Sie reicht ihren Gästen Küchlein aus Süßkartoffeln und spielt kokett ihr Alter herunter. „In Okinawa geben wir traditionell zum 97. eine große Party“, sagt sie. Den runden 100. habe sie dagegen nur klein im Kreis der Familie gefeiert.
Okinawas Hauptinsel liegt etwa 1600 Kilometer von Tokio entfernt, die Inselgruppe Yaeyama, zu der Taketomi gehört, noch einmal 400 Kilometer weiter südlich. Ein kleines Puzzlestück des subtropischen Archipels, das die Ärzte weltweit fasziniert. Wer sich mit Frau Kajigu unterhält, merkt allerdings rasch: Es gibt nicht die eine, alles erklärende Formel für ein langes, glückliches Leben. „Ich esse alles“, sagt sie. „Wenn ich mich mit Freunden treffe, singe ich Karaoke, obwohl meine Stimme nicht mehr das ist, was sie einmal war.“ Insel-Hopping in Japans südlichster Präfektur Okinawa gleicht einer Spurensuche nach dem Glück bis ins hohe Alter.
Ein Mangel an Vitamin D ist auf Okinawa praktisch unmöglich. Die Yaeyama-Inselgruppe liegt nur einen Breitengrad nördlich des tropischen Wendekreises und wird von Sonne geradezu durchflutet. Auf dem Haupt-Eiland Ishigaki wächst in den tiefen Lagen Zuckerrohr, auf den Berghängen dahinter wuchert üppiger Dschungel. Vor der Küste: Korallenriffe. Das Licht ist von jener Intensität, die Maler anlockt. Ein herrliches Klima, das nicht nur Bananenstauden und Mangobäume gedeihen lässt, sondern es tut auch den rund 45.000 Einwohnern gut, die jenseits von Hektik und Trubel der Metropolen die Sonnenseite des Landes genießen. Japans Strandsaison ist kurz: Juli, August, vorbei. Auf Okinawa dagegen reicht sie von April bis Oktober, in milden Jahren noch länger. Während ihre Landsleute im Norden die Kirschblüte feiern oder im Herbst durch buntes Laub spazieren, vertreiben sich die Insulaner die Zeit am Strand mit Suikawari. Dabei suchen die Spieler mit verbundenen Augen und einem Baseballschläger in der Hand nach einer Wassermelone, die sie schließlich zerdetschen. Ein großer Spaß!
Etwa vier Stunden dauert eine Rundfahrt um Ishigaki, und überall – man befindet sich schließlich in Japan – stehen Getränkeautomaten am Straßenrand, selbst auf abgelegenen Pisten. Unterwegs stößt man auf Wildschwein-Jäger, Fischer mit Reishüten, die Netze in der Hand – und den kleinen weißen Leuchtturm von Uganzaki, einer der schönsten Orte, um den Sonnenuntergang zu erleben. Neben dem Turm ragt ein Fels empor, dessen Form an die Pantoffeln erinnert, die traditionell in japanischen Häusern übergestreift werden. Weiter geht’s Richtung Osten und nach Sukuji Beach. Dieser breite Sandstrand rahmt sichelförmig eine stille Bucht. Trotz der Schönheit der Natur gibt es hier nur ein einziges Hotel. An vielen Stränden der Yaeyama-Inseln spült die Brandung längliche weiße Korallensplitter an, auch hier. Sie knirschen unter den Füßen, als würde man auf Glasscherben gehen. Einige Bewohner basteln daraus Windspiele für ihren Garten, andere benutzen sie als Essstäbchen oder dekorative Briefbeschwerer.
Lebende Korallenbänke kann man in der ganz in der Nähe gelegenen Kabira Bay mit ihren vielen Inselchen und verträumten Sandstränden besuchen. Hier werden die begehrten schwarzen Perlen gezüchtet, weshalb Schnorcheln nicht erlaubt ist. Beliebt ist das sogenannte Manta Scramble. Unter dem Glasboden der Ausflugsboote liegt eine wilde, von Canyons durchzogene Unterwasserlandschaft. Es ist das Revier von Mantas, aber auch Clown- und Halfterfische flitzen zwischen Hirnkorallen und Muscheln, so groß wie Blumenkohlköpfe, hin und her. Übrigens, auch die werden oft hundert Jahre alt – eben typisch Okinawa.
Der vollständige Artikel erschien in der Juni-Ausgabe 2017 des Lonely Planet Traveller.
Text: Rory Goulding, Deutsche Bearbeitung: Michael Braun Alexander, Fotos: Matt Munro
Den vollständigen Artikel mit der kompletten Spurensuche im Okinawa-Archipel finden Sie in der Juni-Ausgabe 2017 des Lonely Planet Traveller.