SüdtirolSagenhafte Dolomiten

© Matt Munro
© Matt Munro

Ein Korallenriff in den Alpen? Ja, das gibt’s! Südtirols Dolomiten haben neben spektakulären Wanderwegen ein paar interessante Überraschungen zu bieten. Zum Beispiel eine geheimnisvolle Welt voller Zwerge und Riesen. Ein Besuch im ladinischen Herzen der Region.

Mit einer dicken Zigarre im Mund sitzt Michil Costa vor seinem Hotel in Corvara, er ist vertieft in eine zerfledderte Straßenkarte. Kuh­glocken läuten, in der Nähe surrt leise eine Seilbahn. „Der Sage nach verbirgt der Pragser Wildsee einen geheimen Zugang zur Unterwelt“, sagt er und markiert mit einem stumpfen Bleistift seine Lage im Naturpark Fanes-Sennes-Prags, ein abgeschiedenes Hochplateau, wenige Kilometer nordöstlich des Gadertals. „Nur wer sich bei Vollmond hierher wagt, wird sehen, wie der Berg sich öffnet und die Prinzessin in einem Boot herausrudert.“ Allerdings wisse er nicht, ob das wahr sei.

Costa trägt eine Filzblume im Knopfloch und zitiert gerne den Dalai Lama. Sicher kein typischer Gastwirt, doch seine exzentrische Art passt in die magische Dolomitenlandschaft Südtirols. Bevor es zum Wandern auf den spektakulärsten Routen oder zum Baden im eiskalten See geht, genießt man hier im Bergdorf Corvara nicht nur das Gespräch mit den Einheimischen, sondern schon einen Vorgeschmack auf das Panorama: Wie die zauberhafte Kulisse eines Fantasyfilms recken sich die spitzzackigen Gipfel hier über 3000 Meter in den Himmel. Bizarre steinerne Türme wie die Drei Zinnen, die Geislerspitzen und der Rosengarten, deren schroffer Fels in der Abendsonne feuerrot leuchtet. „Enrosadüra“ nennen die Ladiner, die rätoromanische Bevölkerung in den umliegenden Tälern, dieses grandiose Naturschauspiel klangvoll.

Über viele Jahrhunderte haben die unzugänglichen Berge die Bewohner der Hochebenen und -täler vor Eindringlingen geschützt. So konnten sich über Generationen die Bräuche und Erzählungen erhalten. Sie berichten von geheimnisvollen Zwergen, gutmütigen Riesen und arglistigen Hexen. In vorchristlicher Zeit erklärte man sich so die mächtigen Naturgewalten und den Ursprung dieser außergewöhnlichen Landschaft. Demnach ist das Gestein der Dolomiten so hell, weil hier einst eine Mondprinzessin wohnte, die von ihrem Heimweh befreit wurde, indem Zwerge das Gebirge kurzerhand weiß tünchten. „Ich sage ja nicht, dass ich an diese Geschichten glaube“, beteuert Herr Costa. Aber es stecke doch immer ein Fünkchen Wahrheit in diesen Mythen. „Die meisten von uns haben allerdings für diese Erzählungen nicht mehr viel übrig.“

Die Kultur und Natur seiner Heimat liegen Michil Costa sehr am Herzen. Regelmäßig schreibt er auf seiner Hotel-Website über ladinische Bräuche und aktuelle Themen, etwa über die Kommerzialisierung der Gebirgstäler, die der „porno­alpinen touristischen Monokultur“ (O-Ton Costa) preisgegeben werden. Folglich findet man in seinem Hotel weder aufgeschäumte Molekularsüppchen noch indische Edelhölzer und Kneipp-Pfade aus marokkanischen Flusskieseln. Stattdessen gibt es ehr­liche Südtiroler (Sterne-)Küche und Radtouren an der klaren Bergluft.

Tatsächlich haben die mondänen Touristenorte wie Cortina d’Ampezzo, St. Kassian oder Gröden nicht mehr viel am Hut mit Zwergen und Elfen. In den gepflegten Straßen reihen sich die Vier- und Fünf-Sterne-Hotels sowie Edelboutiquen aneinander, der „Dolomiti Superski“ ist mit 450 Liften und 1220 Pistenkilometern mittlerweile der größte Wintersportverbund der Welt. Immerhin bewahren heute 14 Naturparks die Region vor einem allzu ausufernden Bauboom. Hinzu kommt, dass einige Täler der Dolomiten wegen ihrer „außer­­gewöhnlichen Schönheit“ seit 2009 zum Unesco-Weltnaturerbe gehören – ein Prädikat, das man nicht wieder verlieren möchte. Und so findet man sie zum Glück noch, die einsamen Hoch­ebenen, auf denen Wanderwege und Trekking­routen durch die Natur vorbei an geheimnisvollen Hexenkreisen und hölzernen Kruzifixen führen – wenn man sich von den Gasthäusern an den Liftstationen entfernt.

Auch Erica Clement fühlt sich mit den Traditionen ihrer Heimat verbunden, wenngleich sie wenig Sinn hat für die Sagenwelt ihrer Vorfahren. „Das ist doch alles Blödsinn“, sagt sie und knallt einen Teigballen auf die bemehlte Arbeitsfläche in der Küche. „Wir sind vernünftige Leute und glauben nicht an Märchen.“ Der historische Hof Sotciastel schmiegt sich in 1400 Meter Höhe oberhalb der Gemeinde Abtei an das mächtige Heiligkreuzkofelmassiv und sieht tatsächlich sehr vernünftig aus. Ordentlich aufgetürmte Holzscheite rahmen die Veranda und auf den grünen Wiesen glitzert der Morgentau. Innen hat sich ebenfalls wenig geändert, seit Ericas Ahnen das Haus einst erbaut haben. Die schweren Holztüren sind mit frommen Sprüchen verziert, die alten Dielen knarren unter den Füßen. In einer separaten Wohnung im ersten Stock können Gäste ihren Urlaub verbringen. Jeden Mittwochmorgen drängen sich in der engen Küche außerdem Kochschüler, mit denen die Hausherrin uralte ladinische Rezepte wie Turtres (Teigtaschen mit Spinat), Cajinci (Schlutzkrapfen) oder deftige Klöße zubereitet. In den Bergen galt eine Mahlzeit seit jeher als Brennstoff für lange Wanderungen, die Auswahl der Zutaten war sehr beschränkt. Die einfache und gehaltvolle Küche hat deshalb wenig mit der leichten mediterranen Cuisine gemein. Entsprechend üppig sind die Portionen. „Es kommt nicht darauf an, welchen Käse du nimmst, Hauptsache er stinkt“, sagt Erica, während sie ein dickes Stück über die Reibe hobelt.

Obwohl die Dolomiten seit dem Ersten Weltkrieg zu Italien gehören, man aber in vielen Tälern nach wie vor Deutsch spricht, identifiziert sich Erica als ladinisch. Der rätische Volksstamm siedelt seit Jahrtausenden in den umliegenden Gebirgszügen. Nachdem das Gebiet um 15 v. Chr. unter römische Herrschaft fiel, vermischte sich ihre Sprache mit dem Vulgärlatein der römischen Legionäre und Handelsleute. Daraus entwickelte sich das ladi­nische Idiom, das unter anderem mit dem Italienischen, Französischen und dem Katalanischen verwandt ist. Als im fünften Jahrhundert bajuwarische Stämme über die Alpen einfielen, prägten sie die Sprache und Kultur in Südtirol. In den abgeschiedenen Hochtälern konnte sich das Ladinische hingegen erhalten. Heute sprechen noch etwa 30.000 Menschen die Sprache, die Lokalzeitung widmet ihnen eine eigene Seite und das staatliche Fernsehen strahlt täglich Sendungen auf Ladinisch aus. „Wir sind nicht wie Italiener“, scherzt Erica Clement und wischt sich die mehligen Hände an der Schürze an. „Wir sind weitaus praktischer. Worin liegt schließlich der Vorteil, beim Essen viel Zeit mit verschiedenen Gängen zu vergeuden, wenn man alles auf einmal genießen kann?“

Am nächsten Morgen scheint über Ericas Haus Sotciastel die Sonne. Kühe kauen sich gemütlich durch das saftige Gras, ein uralter Traktor knattert stöhnend die Hänge hinauf. Nach Ericas deftiger Knödel-Mahlzeit ist man bestens gerüstet für eine Wanderung auf die sagenumwobene Fanes-­Hochalm. Durch das idyllische Rautal geht es zum belebten Berggasthof Pederü, wo es von Tages­ausflüglern und Radfahrern nur so wimmelt. Von hier aus führt ein Teilstück des Dolomiten-Höhenwegs 1 quer durch den Naturpark. Es ist eine der spektakulärsten Routen der Region, die wie ein riesiger Kessel von hohen Felsmassiven umschlossen ist. Wunderschön ist die Wanderung vorbei an grün glitzernden Gebirgsseen und wild blühenden Almwiesen, durch lichte Lärchenwälder und über unwirtliche Geröllfelder. Hinter einem Stein lugt tatsächlich ein Murmeltier hervor. Ob hier oben Bären durch die Gegend trotten?

Wenn die Wolken in Augenhöhe vorbeiziehen, kann man sich nur schwer vorstellen, dass die Dolomiten einst in einem seichten tropischen Meer lagen. Sie ent­standen vor mehr als 200 Millionen Jahren aus abgestorbenen Muscheln, Korallen und Schwämmen. Die Sedimente wuchsen mit der Zeit zu gewaltigen Riffen heran, die schließlich durch Verschiebungen der Erdplatten emportraten. Ihre bizarren Gipfel formte jedoch erst das Schmelzwasser der letzten Eiszeit vor rund 10.000 Jahren. So mancher Wanderer fand hier schon voller Erstaunen versteinerte Meerestiere (liegen lassen!). Ein Bergsteigerziel sind die Dolomiten erst seit dem 19. Jahrhundert. Die ersten Alpinisten beschrieben sie als versteinerte Schlösser, gotische Kathedralen und Türme in biblischen Dimensionen. Der Schweizer Architekt Le Corbusier nannte sie „die schönste Architektur der Welt“. Später lernte hier der Grödner Luis Trenker das Kraxeln und die Messner- Brüder aus Brixen eröffneten 1968 am Heiligkreuzkofel den legendären „Mittelpfeiler“, seinerzeit eine der schwierigsten Kletterrouten der Welt. Sogar Sylvester Stallone mühte sich im Actionreißer „Cliffhanger“ durch die magischen Dolomiten, weil sie als Kulisse nicht weniger spektakulär erschienen als die Rocky Mountains, für die man aber keine Drehgenehmigung erhielt.

Nachdem man die Lavarella-Schutzhütte auf der Wanderung hinter sich gelassen hat, wird die Landschaft merklich rauer. Auf dem Pfad zur Kreuz­kofelscharte – hier soll es in 2600 Meter Höhe einen tollen Panoramablick über die Dolomiten und das Gadertal geben – quert man karge Ebenen, auf denen sich der Fels zu steingewordenen Wellen geformt hat. Umgestürzte Bäume recken ihre Wurzeln gespenstisch in den Himmel, die mächtigen Felswände werfen tiefe Schatten. Nicht selten passiert es, dass sich plötzlich die umliegenden Gipfel in dunkle, dichte Wolken hüllen und ein stürmischer Wind aufzieht. Dann bricht man sicherheitshalber die Tour ab und kehrt zur Schutzhütte zurück.

Für die Menschen aus den Tälern sind Wanderungen im Hochgebirge seit jeher heikle Unter­nehmungen. Wer die Gefahren unterschätzt, kann leicht in eine tückische Felsspalte geraten oder von einem gewaltigen Erdrutsch verschüttet werden. Auch bedrohliche Unwetter ziehen in der Höhe oft binnen Minuten auf. Ein ehrfürchtiger Respekt vor den Mächten der Berge speist deshalb viele Sagen und Legenden der Dolomiten.

Auch das Fanes-Hochplateau ist Schauplatz einer uralten ladinischen Sage, die zugleich als Nationalepos gilt. Sie erzählt vom Reich der Fanes und seiner tapferen Prinzessin Dolasilla. Die Königstochter besaß einen Bogen und magische Pfeile, die sie von den Zwergen als Dank für eine gute Tat erhalten hatte. Mit ihnen konnte sie ihr Land gegen jeden Feind verteidigen. Doch der kriegerische König der Fanes verriet sein Volk schließlich aus Raffgier. Dolasilla starb in der Schlacht, der König wurde zu Stein. Sein Antlitz ist noch heute am Falzarego-­Pass – was übersetzt „falscher König“ heißt – zu sehen.

Wissenschaftler nehmen an, dass die Sage den Konflikt zwischen mutterrechtlichen und vaterrechtlichen Gesellschaften beschreibt. War die Jagd seinerzeit eine oft unzuverlässige Nahrungsquelle, konnten die stärkeren Männer nach der Erfindung des Pfluges mehr zur Ernährung beitragen. Doch Ackerbau erforderte Land, was häufiger zu Kriegen führte.

An einem schönen Abend solle man unbedingt zum Pragser Wildsee fahren, hatte Hotelier Michil Costa zu Beginn der Reise empfohlen und ihn auf der Karte markiert. Was für ein guter Tipp! Tiefblau schimmernd liegt er da am Fuße des Seekofel­massivs im Norden der Dolomiten. Auf dem ruhigen Wasser glimmen die Laternen einiger Angler. Am Südufer des Sees soll sich der Sage nach der verschüttete Zugang zur Unterwelt befinden. Hier lebt das geflohene Volk der Fanes noch heute mit den verbündeten Murmeltieren. Die Ladiner nennen den Seekofel deshalb „Sass dla Porta“, Torhüter. Wer hier ist – und wenn das Wetter es zulässt – muss sich in das eiskalte Wasser wagen und ein paar Züge schwimmen. Vor der Kulisse des gewaltigen Bergs fällt es einem nicht schwer, sich Riesen, Zwergen und Prinzessinnen vor­zustellen. Was für ein verwunschener Ort…

Diese und weitere Reportagen finden Sie im Lonely Planet Traveller Magazin, Ausgabe September/Oktober 2013. 

Zum Magazin

Text: Olaf Heise & Oliver Smith

Das Wichtigste

Hinkommen

Fahren Sie mit dem Auto über den Brenner-Pass auf der E45 bis Brixen, dann weiter auf der SS49 bis St. Lorenzen und auf die SP244 in das Gadertal abbiegen. Oder Sie nehmen die Bahn von München nach Brixen (ab ca. 60 €, bahn.de).

Herumkommen

Per Bus geht’s weiter in die Täler. Tipp: Mit der „Mobilcard“ kann man alle öffentlichen Verkehrsmittel des Südtiroler Verkehrsbundes nutzen. Die gibt’s in Bahnhöfen, vielen Hotels oder bei Tourismusvereinen. Kosten: für sieben Tage ca. 28 €.

Mehr Infos

DuMont-Reise-Taschenbuch „Südtirol“ (MairDumont, 16,99 €). Wanderführer „Dolomiten. Sexten, Toblach, Prags. 52 Touren“ (Rother, 14,90 €). Weitere Infos finden Sie unter suedtirol.info.

Outdoor-Erlebnisse

Drei Wege, die Gebirgswelt zu erkunden

Auf Höhenwegen wandern

In den Dolomiten gibt es traumhafte Höhenwege, die an der Baumgrenze durch die 14 Naturparks der Region führen. Einer der schönsten ist der Höhenweg 1 vom Pragser Wildsee über die Sennes- und Fanes-Alm nach Belluno. Auf 150 Kilometern kann man hier gut 14 Tage wandern. Unterwegs übernachtet man in einfachen, komfortablen Schutzhütten wie der Lavarella-Hütte (DZ ab ca. 54 €, lavarella.it) oder der spektakulär gelegenen Lagazuoi-Hütte (DZ ab ca. 70 €, rifugiolagazuoi.com). Tipp: Die neue Südtirol-Trekking-Guide-App bietet 600 Touren, Kartenmaterial, Höhenprofile etc. Infos: suedtirol.info/trekkingguide_de

Über Klettersteige kraxeln

Wer höher hinaus will, geht einen Klettersteig. Die „Vie Ferrata“, die Eisenwege, führen an gesicherten Stahlseilen und über Eisenleitern oft direkt an der nackten Felswand entlang. Schwindelfreiheit, Kletterausrüstung und Helm sind deshalb Pflicht! Schön ist zum Beispiel der Rotwand-Klettersteig in der Rosengartengruppe. Wichtig auch: Bei Gewitter sind die Steige sehr gefährlich! Wer noch nie darauf gegangen ist, sollte deshalb lieber vorher einen Kurs oder eine geführte Tour buchen. Infos: altabadiaguides.com. Achtung: Auch auf Höhenwegen gibt es Klettersteig-Passagen!

Radeln und Fliegen

Wo Berge sind, kann man bekanntlich bestens Mountainbiken. Eine traumhafte Route führt von Wolkenstein zum Sellajoch auf 2245 Meter Höhe, wo man einen tollen Blick auf den Marmolada-Gletscher hat. Geführte Touren unter valgardena-active.com. Wer sich das ganze Spektakel von oben ansehen will, fliegt mit dem Gleitschirm ins Tal. Tandemflüge bietet zum Beispiel der Gleitschirmverein „Fly2“ in St. Ulrich (ab ca. 110 €, fly2.info).

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