Von Landgasthof zu Landgasthof wandern und es sich in den gemütlichen Stuben mit neuem Wein und zünftiger Herbstküche gut gehen lassen - das verstehen Südtiroler unter Törggelen. Eine feine Sache! Da schauen wir doch mal im Eisacktal nach, wie das Lieblingshobby der Einheimischen so funktioniert...
Auf dem "Larm-Hof", hoch in den Dolomiten, deren Gipfel in den Wolken liegen, röstet Stefan Winkler Kastanien. Er schwenkt gekonnt die gusseiserne Pfanne über der Feuerstelle, sodass die Maronen in hohem Bogen gewendet und die Schalen gleichmäßig schwarz werden. "Wichtig ist, den optimalen Garpunkt zu treffen", sagt Stefan. Vor drei Jahren hat er den Hof in Villanders, einer kleinen Gemeinde am Osthang der Sarntaler Alpen, von seinen Eltern übernommen. Er liegt direkt am Keschtnweg, jener rund 60 Kilometer langen Wanderstrecke, die von Brixen nach Bozen führt und durchzogen ist von Kastanienhainen. Und auf der man bäuerliche Schankbetriebe ansteuern kann wie es der von Stefan und seiner Frau Sabine einer ist. Im Herbst müssen sich die Winklers nicht nur um zwei Kinder, 30 Kühe sowie ihren Wein- und Obstanbau kümmern, sondern auch um die zahlreichen Gäste, die in die holzgetäfelten Stuben des "Larm-Hofs" einfallen. "Sie kommen zum Törggelen, da dürfen Kastanien nicht fehlen." Törggelen, das heißt den jungen Wein verkosten. Dabei gerät man zwar zuweilen ordentlich ins Torkeln, doch das Wort leitet sich nicht davon sondern vom lateinischen Begriff für Traubenpresse (torculus) ab. Schon im Mittelalter dankte man den fleißigen Erntehelfern mit einer ordentlichen Jause, bei der der "Nuie" ausgeschenkt wurde.
Später kamen die reisenden Kaufleute auf die Höfe, um die heimischen Produkte zu probieren. Die Bauern waren natürlich scharf darauf, ihre Waren ansprechend zu präsentieren und veranstalteten festliche Bankette in ihren schönsten Räumen – in der Hoffnung, den angeschickerten Gästen auf diese Weise den Kauf eines zusätzlichen Fasses Wein oder einer Kiste Trauben schmackhaft machen zu können. Auch die Winklers haben – der Tradition folgend – ihr Haus herbstlich herausgeputzt: Kornkränze schmücken die Fensterrahmen, an der Türschwelle stehen Weidenkörbe voll saftiger Äpfel und Kürbisse. Drinnen geht’s schon hoch her: Eine bunte Mischung – Einheimische, Touristen, Motorradfahrer, Radler und Wanderer – schart sich um lange Tische. An einem Ende löffelt eine Familie Gerstensuppe und dippt Schüttelbrot (dünne, würzige Fladen) in die Schalen. In einer anderen Ecke lassen sich bärtige Wanderer Würste, Schweinshaxen und Speck mit Meerrettich und Sauerkraut schmecken. Solch deftige Schlachtplatten sind typische Törggelen-Speisen. Bald kommen auch Bierfaschen und Weinkännchen dazu, serviert von lächelnden Kellnerinnen in Dirndln. Die Gäste reichen Gläser herum und tauschen ihre Erlebnisse vom Tag aus. Einer erzählt vom Picknick am Berg, der nächste vom intensiven Geschmack des Apfelsafts, den er auf einem Hof probiert hat. Ein Mann in Motorradjacke rekapituliert seine Beinahe-Kollision mit einer Milchkuh und witzelt, man wäre sich beinahe auf der Schlachtplatte wiederbegegnet. Nach dem Hauptgang werden unter Applaus Körbe mit den gerösteten Esskastanien aufgetischt. Die Leute puhlen die heißen Schalen mit der Hand ab. Von irgendwoher ertönt ein Akkordeon, dann wird der Raum mit alten Volksliedern geflutet. Alle stimmen mit Begeisterung ein, wenn auch nur wenige den Text beherrschen. Mehr Kastanien landen auf dem Tisch, mehr Wein fließt. Draußen wird die Dämmerung von der Dunkelheit verschluckt. Es ist kurz nach Mitternacht, als Stefan seine letzten Gäste verabschiedet. "Darum geht’s beim Törggelen", sagt er. "Es ist eine Zeit des Teilens und der Geselligkeit. Ein Herbst ohne diesen Brauch ist für uns undenkbar."
Text: Oliver Berry, deutsche Bearbeitung: Andrea Bierle, Fotos: Matt Munro
Den vollständigen Artikel über das Törggelen in Südtirol finden Sie in der Oktober-Ausgabe 2017 des Lonely Planet Traveller.