Ein paar Wochen im Herbst hält der Nordosten der USA den Atem an: Dann tuscht der Indian Summer das Laub spektakulär gelb, orange und rot. Am besten cruist man mit dem Auto durchs Land, vorbei an Berggipfeln, Fischerhäfen, Farmhäusern und Kürbissen, groß wie Medizinbälle. Kino on the Road!
Die Region Neuengland umfasst sechs amerikanische Bundesstaaten. Unser Roadtrip startet in der historischen Metropole Boston. In Maine und New Hampshire geht es dann zur rauen Atlantikküste und kilometerweit durch dichte Pinienwälder. Zum Abschluss führt die State Route 100 nach Litchfield, wo sich zur Erntezeit Kürbisse, Maiskolben und Blätterberge türmen
Ihr Kleid ist bodenlang, der Rock knallrot, der Kragen mit weißer Spitze besetzt. Auf dem Kopf trägt sie einen Hut, weiter unten flattert ein üppiger Mantel mit Blumenmuster. In ihrem Kolonialzeit-Outfit ist Emily ein ziemlicher Kontrast zu all den Joggern und Spaziergängern ringsum. Fast täglich führt sie oder einer ihrer Kollegen Besucher über den Boston Freedom Trail und erklärt, wie es zur Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika kam. Dabei schlüpfen sie in die Rollen von Personen aus dem 18. Jahrhundert – allerdings nicht in die bekannter Akteure aus Politik und Geschichte, sondern die normaler Bostoner. Emilys Alter Ego ist Elizabeth Otis, Tochter von James Otis Junior, der als Jurist und Unabhängigkeitskämpfer 1765 gegen die britische Kolonialmacht kämpfte. Elizabeth ist zu dieser Zeit noch ein Teenager und hin- und hergerissen zwischen ihrer Mutter, einer loyalen Untertanin der britischen Krone, und dem rebellischen Vater. „Ich versuche, mich so gut es geht in sie hineinzuversetzen“, sagt Emily und guckt angemessen ernst. Nur ihre moderne Brille stört die Illusion.
Im Boston Common, dem ältesten öffentlichen Park der USA, sammelt sie ihre Zuhörer ein. Von hier führt die vier Kilometer lange Route zu den Schauplätzen des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, markiert durch zwei Reihen roter Pflastersteine im Boden. An der Ecke Park Street/Tremont Street erklärt Emily den Stamp Act von 1765: Das Stempelsteuergesetz wurde vom britischen Parlament verabschiedet und verlangte, dass alle offiziellen Dokumente mit Steuermarken versehen werden mussten. Das sorgte für ersten Unmut in der Bevölkerung. "Als Erstes hat das betrunkene Gesindel einen Aufstand gemacht", erzählt sie und lacht: "Die spannendsten Ereignisse unserer Geschichte haben mit Besoffenen zu tun!" Selbst Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, genehmigte sich gern ab und zu einen Drink. Im Jahr 1737 veröffentlichte er eine Enzyklopädie für Trinker, eine Liste mit 220 Sätzen, die, so Franklin wörtlich, "eindeutig signalisieren, dass ein Mann betrunken ist." Auf der Höhe von Franklins ehemaliger Schule, Amerikas ältester, zeigt Emily auf dessen Bronzestatue und schüttelt den Kopf: „Benjamin Franklin hasste diese Stadt. Er ging nur zwei Jahre zur Schule, dann entschieden seine Eltern: 'Du wirst es sowieso nie zu etwas bringen, da müssen wir dich nicht unterrichten lassen.' Also setzte er sich nach Philadelphia ab – und wurde zu einem der wichtigsten Männer in der amerikanischen Geschichte!" Vom Old South Meeting House, wo die Boston Tea Party geplant wurde, bis zum Granary Burying Ground, wo Grabsteine an die gefallenen Revolutionäre erinnern, hat Bostons Altstadt massig Historie zu bieten. Doch jenseits des Kopfsteinpflasters wird die Vergangenheit mehr und mehr verdrängt. Das verklinkerte Old State House mit seinem weißen Türmchen wirkt beinahe mickrig zwischen den Hochhausriesen. Hier wurde 1776 die Unabhängigkeitserklärung verlesen. Emily blickt andächtig nach oben. Ihr Alter Ego Elizabeth heiratete damals letztlich einen britischen Hauptmann und verbrachte den Rest ihres Lebens brav in England. Sie streicht ihren roten Rock glatt: "Die Geschichte hätte auch ganz anders verlaufen können."
Text: John A. Vlahides, deutsche Bearbeitung: Alina Halbe, Fotos: Mark Read
Die vollständige Reportage zum perfekten Trip durch Neuengland in Nordamerika finden Sie in der Oktober-Ausgabe des Lonely Planet Traveller.
Hinkommen
Ab Frankfurt a. M. fliegt Lufthansa (lufthansa.com) nonstop nach Boston, Condor fliegt saisonal von Frankfurt a. M. nach Providence, Rhode Island (condor.com). Von Zürich geht's nonstop mit Swiss International Air Lines (swiss.com) in die US-Metropole. Ab Wien steuern Lufthansa via Frankfurt a. M., British Airways via London Boston an (britishairways.com).
Herumkommen
Die Bostoner Altstadt ist ein Labyrinth aus Einbahnstraßen, die Parkplatzsuche hier ein Albtraum. Machen Sie sich also lieber zu Fuß oder mit Bus und Bahn auf den Weg (mbta.com). Für die Weiterreise ist ein Auto aber unerlässlich. Große Mietwagen-Firmen wie Alamo, Avis, Hertz oder Enterprise haben Filialen in Boston. Für einen Mittelklassewagen rechnet man pro Tag etwa 40 bis 60 Euro, inklusive Steuern und Versicherung auch das Doppelte. Für die Mautstellen Maine Turn pike (I-95), Massachusetts Turnpike (I-90) sowie die Tunnel und Brücken in Boston legen Sie sich besser eine Handvoll Kleingeld bereit.
Wie lange bleiben?
Planen Sie mindestens zwei Nächte pro Stopp. So hat man immer einen ganzen Tag, um die Gegend ausgiebig zu erkunden. Auch die Fahrt- und Ruhezeiten sollten bei einem Trip von rund 1600 Kilometern bedacht werden. Etwa zwei Wochen Reisezeit sind für das Programm ideal.
Reisebudget
Ein gutes Boutique-Hotel kostet im Durchschnitt etwa 150 Euro pro Nacht. Für ein einfaches Mittagessen bezahlt man in der Regel zwischen 10 und 20 Euro. Zum Trinkgeld: Werden Sie bedient, addieren Sie etwa 15 bis 20 Prozent. Viele Kellner leben ausschließlich vom Tip. Eine Gallone Benzin kostet circa 3 Euro, sodass man bei 1600 Kilometern auf etwa 140 Euro kommt.
Wann hinfahren?
In voller Pracht kann man die bunten Blätter im September und Oktober erleben. Das Laub verfärbt sich zuerst in Kanada und Maine, dann auch weiter südlich.
Buchtipp & Infos
Ein umfangreiches Kapitel zur Region Neuengland bietet der Lonely-Planet-Reiseführer "USA. Osten" (22,99 €). Auf discovernewengland.org findet man viele praktische Tipps zur Reiseplanung und Infos zur aktuellen Veranstaltungen.