In Millionenstädten wie Rio de Janeiro, Kapstadt oder Bangkok boomen laut neuesten Statistiken Touristentouren durch Slums. Ist das moralisch und politisch korrekt, Herr Steinbrink?
Steinbrink: Das ist die organisierte Besichtigung städtischer Armutsgebiete. Die Ziele liegen heute vor allem auf der Südhalbkugel: Es sind die Townships in Kapstadt oder Favelas in Rio de Janeiro. Aber auch in Kenia, Mexiko, Indien, Jamaika oder Thailand wollen mehr und mehr Touristen die „Schattenseiten“ der Metropolen sehen. Von der Bereisung der Armut versprechen sie sich das „echte“ Erlebnis jenseits ausgetrampelter Pfade und touristischer Inszenierung. Wie laufen derartige Touren ab? Die Touristen werden meist mit Minibussen von ihren Unterkünften abgeholt und in die Slums gebracht. Die Touren umfassen in der Regel drei Bereiche: „Alltagsleben“, „Tradition und Kultur“ sowie „soziale Projekte“. Neben Märkten und Kneipen werden teilweise Privathäuser besichtigt. Die Teilnehmer sehen und fotografieren zum Beispiel Medizinmänner oder Sambaschulen, und fast immer steht ein Abstecher zu einer sozialen Einrichtung für Kinder auf dem Programm. Bei den Favela-Touren in Rio ging es bisher auch sehr stark um den Nervenkitzel. Die Touristen werden auf Motorradtaxis mit einem Affenzahn über Serpentinen durch dichtesten Verkehr an den höchsten Punkt der in die Berge gebauten Favelas gebracht. Mit erhöhtem Adrenalinspiegel geht’s anschließend durch die Siedlung, wobei man Jugendliche mit Sturmgewehren oder Tüten voll Drogen zu sehen bekommt. Ein touristisches Erlebnis der besonderen Art. Nach der Tour heißt es zurück ins Hotel oder zum Strand. Das empfinde ich dann schon als eine Art Social-Bungee-Jumping: Ein Ausloten der globalen sozialen Fallhöhe, ohne jedoch Gefahr zu laufen, hart zu landen.
Dem Großteil ist die Anwesenheit der Touristen recht egal. Einige Bewohner begrüßen, dass sich nun die Öffentlichkeit für ihr Leben zu interessieren scheint, andere entwickeln auch einen Stolz auf ihr Wohnviertel. Beschwerden gibt es jedoch, wenn die Privatsphäre verletzt wird, zum Bespiel weil Touristen ungefragt in Häuser hineinfotografieren. Einige Bewohner beklagen, dass zu wenig Geld in besuchten Gebiete fließe und meist lediglich die Tourunternehmen profitierten. Das ist im Übrigen eine Beobachtung, die ich bestätigen kann.
Am Anfang steht die Stadtpolitik dieser Art von Tourismus oft sehr kritisch gegenüber. Die Slums werden als Schandflecken empfunden. Besucher sollen sich lieber Zuckerhut, Tafelberg oder Taj Mahal angucken. Zunehmend wird aber „pro poor tourism“ öffentlich propagiert und der Slum-Tourismus auch als Stadtentwicklungs-Instrument eingesetzt. Dafür sind die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro ein gutes Beispiel. Bisher wurden bei solchen Mega-Events Mauern um die Slums gebaut oder ganze Wohngebiete abgerissen. In Rio will man jetzt mithilfe von Polizei und Militär den Drogenhandel und die Bandenkriminalität in den Griff bekommen und bis 2016 rund 100 Favelas befrieden. In bestimmten Favelas wird der Tourismus nun als Teil einer allgemeinen Imagestrategie der Stadt öffentlich gefördert, um ein farbenfroheres Bild zu vermitteln. Die Folgen: Durch die Attraktivitätssteigerung steigen Bodenwert und Mieten in den befriedeten Gebieten, und die Bewohner werden in andere Favelas am Stadtrand verdrängt. So wird die Armut allerdings lediglich verlagert.
Ich möchte eigentlich keine Werbung für Ausflüge in Slums machen – das sehe ich nicht als meine Aufgabe als Sozialforscher. Mir persönlich gefallen die Touren von unabhängigen Guides aus den jeweiligen Gebieten jedoch besser als durchgestylte professionelle von großen Veranstaltern. Dann kann man stärker selbst bestimmen, was man sehen möchte. Solche Tourangebote findet man meistens nicht im Internet, sondern nur vor Ort.
Ich will das nicht pauschal bewerten, dazu sind die Motive von Touristen und Anbietern und auch die Touren selbst zu unterschiedlich. Auffallend ist jedoch, dass die Veranstalter bemüht sind, die moralischen Bedenken ihrer potentiellen Kunden zu zerstreuen. Die Urlauber sollen sich nicht als Sozialvoyeure, sondern als Kulturreisende und Entwicklungshelfer fühlen. Durch diese Verknüpfung von Kultur und Hilfe wird allzu leicht eine „Kultur der Hilfsbedürfigkeit“ vermittelt. Das ist nicht nur falsch, sondern transportiert auch die Botschaft, dass nicht Politik oder Ökonomie für die Situation in den Slums verantwortlich zu machen seien, sondern „die Kultur“. Diese Entpolitisierung und Entproblematisierung der Armut beobachte ich sehr skeptisch.
Interview: Marike Stucke
Dr. phil. Malte Steinbrink ist Sozialgeograf und forscht an der Universität Osnabrück zum Thema Slum-Tourismus. Infos zur Person