In den 1880ern tingelte der Ururgroßvater von Sibylle Randoll durch die USA – 136 Jahre später beschließt die Baden-Württembergerin, seine Route von damals nachzureisen, und zwar stilecht im Look der Gründerzeit. Mit Hütchen, Schirm und Charme erobert sie die Neue Welt
Weihnachten 2012 fiel mir das Reise-Tagebuch meines Ururgroßvaters Otto Dahl in die Hände. Er war Lederfabrikant in Wuppertal und hatte sich gerade mit seinem Vater überworfen, als er sich 1880 zu einem Abenteuertrip in die USA aufmachte – für damalige Verhältnisse völlig ungewöhnlich. Ich konnte lesen, wie ergriffen er von der Naturgewalt der Niagarafälle war. Genau wie ich während eines Schüleraustauschs! Plötzlich kam mir die Idee, auch alle anderen Orte von Ottos Tour durch den Wilden Westen abzuklappern. Ich kündigte meinen Job als Marketingmanagerin einer Tourismusagentur in München und begab mich im Mai 2016 auf Spurensuche. Mit 26 Jahren übrigens im gleichen Alter wie damals mein Ururgroßvater bei seinem Aufbruch in die Neue Welt.
Mit einem nachgenähten Kostüm der Epoche ging ich in Bremerhaven an Bord, denn ich wollte wie Otto mit dem Schiff über den Atlantik fahren. Das blaue viktorianische Kleid war die Idee meiner Mutter: ,Wenn schon eine historische Reise, dann auch in entsprechendem Gewand‘, fand sie. Während mich meine Ausstattung einige Mühe kostete, musste ich mir um die Route hingegen nicht den Kopf zerbrechen – das hatte Otto ja schon für mich getan. Von New York aus sollte es über Chicago und Denver bis in das Städtchen Bozeman in Montana gehen, der westlichste Punkt, den mein Urahn erreicht hatte.
In New York begrüßte mich ein atemberaubender Sonnenaufgang, der dem Big Apple würdig war. Mein Plan: an jedem Ort ungefähr drei Tage bleiben. Dabei hat mich Missouri landschaftlich besonders überrascht. Grüne Wiesen inmitten einer leicht hügeligen Landschaft und Schäfchenwolken an einem intensiv blauen Himmel – traumhaft!
Auf der Fahrt von Chicago nach Kansas City hatte ich die unvergessliche Begegnung mit einer Amischen Familie. Sie luden mich in ihr Zuhause nach Missouri ein. Ich durfte ein bisschen bei ihnen bleiben. Und so lernte ich den Alltag dieser traditionellen Glaubensgemeinschaft kennen. Da sie Pennsylvania Duits sprachen, eine Weiterentwicklung des Pfälzer Dialekts, konnte ich mich prima in ihrer Muttersprache verständigen.
Meistens war ich mit der Bahn unterwegs, denn leider fahren ja keine Postkutschen mehr. Um mich möglichst Ottos Tempo anzupassen, hätte ich mich nämlich am liebsten auf diese Art fortbewegt. In Gedanken war ich ständig bei meinem Ururgroßvater. Gleich zu Beginn meiner Reise entdeckte ich seinen Namen auf der Passagierliste im Auswandererhaus Bremerhaven. Und auch unterwegs gab es immer wieder intensive Momente, in denen ich Déja-vu-Erlebnisse aus Ottos Aufzeichnungen hatte. Wie er kam ich oft bei Freunden oder Verwandten unter, aber auch Couchsurfing kam schon zum Einsatz.
Erst vor Kurzem erfuhr ich, dass ich noch andere Verwandte in den USA habe. Sie leben in St. Louis, wo ich sie bald treffen werde. Meine Ahnengeschichte wird also fortgesetzt.
Mehr über Sibylles Ahnen-Abenteuer unter explories.de
Protokoll: Hannah Boeddeker, Bilder: privat
Dieser Artikel ist in der November-Ausgabe des Lonely Planet Traveller erschienen. Dort finden Sie außerdem eine Reportage über Java, Concierge-Tipps für die Metropolen Europas und Ideen für Kurztrips im Herbst.