Bei einer Fahrt von Mombasa nach Nairobi auf der ungewöhnlichsten Eisenbahnstrecke Kenias sträuben sich einem die Nackenhaare - weil man bizarre Geschichten von Menschenfresser-Löwen und Safaris hört. Starten wir zu einer abenteuerlichen Zeitreise mit dem „Lunatic Express“.
Es ist Schlafenszeit in Mombasa. Hoch über den leergefegten Straßen der Hafenstadt weht eine Wolkendecke vom Indischen Ozean herüber. Nur am Bahnhof herrscht noch Betrieb: Seit Stunden warten Kenianer und Touristen auf den verspäteten Nachtzug nach Nairobi. Auf dem Bahnsteig singt ein Straßenmusiker Melodien aus „Der König der Löwen“. Eine Katze hat sich neben einem Kofferstapel zusammengerollt. Der Bahnhofsvorsteher nippt an einer Tasse milchigem Tee und schaut auf die Uhr. Fast scheint es, als würde er auf einen Zug warten, der schon vor Jahrzehnten abgefahren ist. Denn sämtliche Anzeigetafeln sind leer, die Schienen mit Gras überwachsen. Doch da rührt sich etwas in der Ferne. Aus der Dunkelheit ertönt ein krächzendes Pfeifen, so unvermittelt, dass die Katze aufspringt und der Bahnhofsvorsteher seinen Tee vergießt. Scheinwerferkegel erhellen die Gleise und aus der Nacht erscheint ratternd der Zug aus Nairobi.
„Eiserne Schlange“ oder „Lunatic Express“ („Wahnsinns-Express“) nennen ihn Insider. Seinen Spitznamen erhielt der Zug, weil ein Ticket für waghalsige Aristokraten und Großwildjäger Anfang des 20. Jahrhunderts jede Menge Abenteuer bedeutete. Ab 1901 kutschierte die von britischen Kolonialherren gebaute Bahn, die heute Teil des kenianischen Schienenverkehrsnetzes ist, Adrenalin-Süchtige auf der rund 450 Kilometer langen Strecke von der ruhigen Küste ins wilde Innere des Landes. „Verstehen Sie jetzt, woher der Name kommt?“, fragt John, der Stationsvorsteher. „Wer damals aus Europa kam, um eine Eisenbahntrasse durch den Busch zu bauen, der musste verrückt sein!“ In der Tat: Das Projekt verschlang Unsummen, ständig griffen Nashörner die Lokomotive an und Giraffen kauten an den Telegrafenleitungen.
Heute hoffen Passagiere des „Lunatic Express“ nicht mehr auf lebensbedrohliche Kicks während der etwa 15 Stunden langen Fahrt, sondern auf Savannen-Panorama und Begegnungen mit Tieren aus sicherer Distanz. Der Zug, der ein wenig aussieht wie Waggons der „British Rail“ aus den 50er-Jahren, hat sich seine einzigartige Ausstrahlung bewahrt. Noch immer sitzt man im Frühstückswagen bei Toast mit Orangenmarmelade und starkem kenianischem Tee, lauscht dem Geratter und Geschirrgeklapper und tauscht Reiseerlebnisse aus. Das Porzellan ist angeschlagen, das Besteck schon leicht verbogen. Wer aus dem Fenster sieht, entdeckt mit etwas Glück Zebras, Giraffen und Gnus. Ab und zu blockieren Rinderherden der Massai die Gleise.
Endlich fährt der Zug Richtung Nairobi. Manchmal werden Passagiere von dem Geruckel seekrank. Früher wurden sie sogar gebeten, ihre falschen Zähne herauszunehmen. Wir nähern uns nach einer Weile der Brücke über den Tsavo-Fluss, dem Schauplatz des grausigsten Kapitels des Streckenbaus: 1898 lauerten hier zwei mähnenlose, menschenfressende Löwen den indischen Gleisarbeitern auf und zogen sie nachts aus ihren Zelten. Hunderte fielen ihnen zum Opfer. Der Bauleiter John Henry Patterson erschoss die Tiere. Die ausgestopften Körper stehen heute im „Field Museum“ in Chicago, wo sie immer noch Angst und Schrecken verbreiten. Diese zwei Löwen waren nicht die einzige Bedrohung. Jahre später rückte der britisch-indische Großwildjäger Charles Ryall aus, um den „Kima Killer“ zu eliminieren – einen Löwen, der sich über Bahnhofsdächer an wartende Passagiere heranschlich. Doch als Ryall ihm in einem Waggon versteckt auflauerte und mit dem Gewehr im Schoß eindöste, zerfleischte ihn die Großkatze. Ryalls Überreste wurden in einem Eisenbahnlager namens Nairobi (heute bekanntlich die Hauptstadt) vergraben.
Als wir am nächsten Morgen am Ziel ankommen, treffen wir auf dem Bahnsteig David Gitundu, der schon als Kind auf die Bäume entlang der Gleise kletterte, um die einfahrenden Waggons besser sehen zu können. Heute verkauft er Postkarten alter Dampfloks auf dem Bahnsteig. „Die Stämme, die in dieser Region lebten, ärgerten sich über den Bau der Bahnstrecke“, erinnert sich Gitundu. „Sie glaubten, dass die Menschenfresser-Löwen von den Geistern ihrer Vorfahren besessen seien und zurückkehrten, um den Zug zu zerstören.“ Doch niemand stoppte die „Eiserne Schlange“.
Trotz der furchteinflößenden Geschichten, die man unterwegs so aufsammelt, waren und sind die Safaris am Ende der Bahnstrecke nahe Nairobi beliebt. Die berühmteste ist sicher die des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt: Gleich nach seiner Amtsablösung 1909 stieg er aus dem „Lunatic Express“ und marschierte mit über 200 Trägern durch Sümpfe, Flüsse und Savannen. Dabei schoss er alles, was ihm vor die Flinte kam, notierte akribisch Größe und Gewicht, spekulierte über die Gefährlichkeit der Tiere und den Geschmack ihres Fleisches. 11.000 Spezies, von Insekten bis zu Nilpferden, tötete der Jäger.
Abgesehen von Exzessen und Dummheiten waren es seine Expeditionen, welche die Safari-Faszination mit dem Mix aus Luxus und Gefahr auslösten.
Auch heute starten die meisten Touren ab Nairobi. Wer morgens mit der Eisenbahn in der 3-Millionen-Metropole ankommt, kann noch einen Flug in die Savanne erwischen, etwa in den Masai-Mara-Nationalpark. Das 1510 Quadratkilometer große Gebiet gilt als Kenias tierreichstes Reservat. Von hier aus leitet Charlies Großenkel Calvin Cottar Afrikas ältestes Safari-Business. „Einige meiner Vorfahren waren verrückt“, sagt er und zeigt auf ein Porträt seines Urgroßvaters. „Sie taten alles, um Narben zu sammeln und haben wilde Tiere mit dem Lasso gejagt!“ Über die Jahrzehnte wurde das Safari-Geschäft weniger draufgängerisch. Doch der verschwenderische Stil lebt im „Cottar’s 1920 Camp“ weiter. Alle Zelte sind mit Antiquitäten dekoriert, und in einem alten Skizzenbuch findet man einen Artikel von Charlie Cottar. Er schwärmt darin großmaulig von seinen Heldentaten: „Drei Mal bin ich schon von Leoparden angegriffen und von Elefanten getreten worden, dazu hab ich zahllose Blessuren kleinerer Viecher eingesteckt. Wenn du das Glück immer wieder herausforderst, wird dich früher oder später ein wildes Tier erwischen!“ Genau so geschah es: 1940 wurde Charlie Cottar nahe seines Zeltes von einem Nashorn attackiert. Da er es gerade noch schaffte, einen Schuss auf den Koloss abzugeben, starben Charlie und das Nashorn Seite an Seite.
„Früher lauerten in Afrika hinter jedem Busch wilde Tiere“, erzählt Calvin Cottar. „Doch auch wer heutzutage von diesem Flecken Erde aus losmarschiert, macht sich innerhalb einer halben Stunde vor Angst in die Hose.“ Gemeinsam mit Calvin fahren wir durch die grünen Hügel am Rande der Masai Mara. Der Duft wilder Minze liegt in der Luft, Paviane schaukeln in Feigenbäumen, spatzengroße Insekten surren vorbei und Aasgeier picken an Knochen. „Im Busch geschehen unerklärliche Dinge“, erzählt der Safariguide Douglas Nagi, ein hartgesottener Typ, der mal den Biss einer Giftschlange erst nach Tagen bemerkte. „Neulich habe ich einen Leoparden beobachtet, der zwei Stunden lang mit einer Netzpython um einen Antilopenkadaver kämpfte. Hätte ich das gefilmt und auf Youtube platziert, wäre ich jetzt berühmt!“ Heute wie damals werden Erlebnisse mit gefährlichen Tieren wie Heldentaten bestaunt.
Unser Jeep klettert einen Hang hinauf. Auf der Kuppe hat Douglas eine Löwin erspäht, die einen Giraffenkadaver vor einem Pulk Geier verteidigt. Eine Großkatze aus der Nähe zu beobachten lässt den Puls rasen. Diesen Nervenkitzel erlebt man in Kenia immer seltener. Seit den Roosevelt-Tagen ist die Großwildpopulation dramatisch eingebrochen. Nashörner, die einst den „Lunatic Express“ angriffen, sind vom Aussterben bedroht. Sicher sind die ersten Safariexpeditionen mitverantwortlich für diese tragische Entwicklung. Den Großwildjägern fielen Tausende Tiere zum Opfer. Außerdem förderten sie die Gleichgültigkeit gegenüber der Wildtierpopulation und deren Lebensräume. Dennoch fesseln einen die Abenteuer von damals und die Gegend zählt nach wie vor zu den wilden Ecken des Landes.
Nur in der Nacht, wenn man wieder im Camp weilt, wünschte man sich etwas weniger Abenteuer. Mit den Geschichten über die Menschenfresser-Bestien im Kopf, stellt man sich beim Einschlafen vor, wie Löwenkrallen durch die Zeltplane ritzen und überlegt, mit welchem Gegenstand man sich verzweifelt verteidigen würde. Der Angriff bleibt natürlich aus, stattdessen brüllen in der Nähe Raubkatzen, Paviane bellen und Elefanten wetzen ihre Stoßzähne an Bäumen. Und in der Ferne schnauft und pfeift tapfer der „Lunatic Express“.
Diese und weitere Reportagen finden Sie im Lonely Planet Traveller Magazin, Ausgabe November/Dezember 2013.
Text: Oliver Smith
Das Wichtigste
Hinkommen
Ab Frankfurt a. M. und Wien fliegt Condor (condor.com) nonstop und Turkish Airlines (turkishairlines.com) via Istanbul nach Mombasa. Ab Zürich geht's nonstop mit Edelweiss Air (edelweissair.ch).
Herumkommen
Mit dem Mietwagen durchs Land zu fahren ist nicht empfehlenswert. Man kann in die Savanne fliegen, z. B. mit Safarilink (flysafarilink.com). Veranstalter wie Natural Tours & Safaris organisieren Trips (naturaltoursandsafaris.com).
Weiterlesen
Der Lonely Planet „Kenia“ (MairDumont, 22,99 €) mit Infos zu Impfungen und Visa.
Noch mehr Tier-Safaris
Kenia ist berühmt dafür, dass man hier prima Löwen und Elefanten beobachten kann. Doch in Ostafrika gibt es auch unbekanntere Alternativen für tierische Begegnungen …
Tansania
Ein Land der Superlative: Hier liegt Afrikas höchster Berg, der Kilimandscharo (5895 Meter). Das Wildreservat Selous ist mit mehr als 50.000 Quadratkilometern das größte des Kontinents. Weitere Höhepunkte sind der Lake-Manyara-Nationalpark mit seinen seltenen Baumlöwen sowie der weltberühmte, geschlossene Ngorongoro-Krater mit einer enormen Vielfalt an „Bewohnern“: Ca. 25.000 Tierarten sind hier zu finden, darunter die höchste Raubtierdichte des Kontinents. Von den spektakulären Lodges am Kraterrand starten geführte Touren ins Innere, wo die letzten Exemplare des schwarzen Nashorns leben. Der Veranstalter Afrika Pur Reisen bietet als Tansania-Spezialist verschiedene Safaris an (3 Tage ab ca. 585 €, afrika-pur.de).
Uganda
Noch ist das Land eine unbekanntere Safari-Destination, die hohe Primaten-Population hier ist aber einmalig. Eine Pirsch durch den nebeligen Bwindi-Wald auf der Suche nach den Berggorillas im Grenzgebiet zwischen Uganda, Ruanda und der Republik Kongo ist absolut eindrucksvoll. Löwen und Leoparden begegnet man mit etwas Glück im Queen-Elizabeth-Nationalpark. Ebenso aufregend: eine Bootstour über den Kazinga-Kanal, wo Hippos planschen, Elefanten baden und Krokodile treiben. Habari Travel bietet zum Beispiel eine 18-tägige Gruppen-Rundreise mit Schimpansentracking, Besuch bei den Gorillas und Bootsfahrten u. a. auf dem Nil an. Die Reise ist single-freundlich (ab ca. 2845 € p. P. inkl. Flug, habaritravel.de).
Botswana
Weltweit einmalig ist das Okavango-Delta mit seinen Flüssen, Inseln, Sümpfen, Seen, großen Elefantenherden und beeindruckenden Löwenrudeln. Es bildet mit mehr als 20.000 Quadratkilometern eines der größten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Mit Glück entdeckt man u. a. afrikanische Wildhunde, die im Rudel sogar Beutetiere angreifen, die dreimal so groß sind wie sie selbst. Eine klassische 10-Tage-Camping-Safari kann man zum Beispiel bei dem Veranstalter Bwana Tucke-Tucke buchen. Man unternimmt Pirschfahrten im Moremi-Wildreservat mit unzähligen Tierbegegnungen, Bootstouren im Chobe National Park und einen Besuch der berühmten Victoriafälle (ab ca. 1260 € p. P., ohne Flug, bwana.de).
Sicher reisen in Kenia
Jedes Jahr reisen Tausende Touristen durch Kenia, meist problemlos. Am 21. September 2013 fand in Nairobi ein bewaffneter Anschlag auf ein von Ausländern frequentiertes Einkaufszentrum statt. Bis zur Klärung der Hintergründe riet das Auswärtige Amt, sich mit erhöhter Umsicht in der Stadt zu bewegen.Weiter müssen sich Reisende wegen eines im August passierten Großbrandes im Ankunftsbereich des Flughafens Nairobi auf eine provisorische Abfertigung vorbereiten. Ende 2011 wurden Touristen an einem einsamen Strand der Insel Lamu entführt. Diese Vorkommnisse geschahen weit entfernt von Mombasa, Nairobi und den Wildreservaten. Dennoch müssen Touristen wachsam sein. Gemieden werden sollten dunkle Gassen und Menschenmengen. Teurer Schmuck gehört nicht ins Reisegepäck. Kameras nur in unauffällige Beutel packen, die am Körper getragen werden. Devisen nur in offiziellen Banken und Tauschbüros wechseln. Nairobis Slums wie Kibera oder Mathare unbedingt meiden. Übergriffe von Tieren auf Safarigäste sind äußerst selten. In den bewachten Zeltcamps und Lodges ist man recht behütet. Sein Zelt sollte man nachts nur in Begleitung eines Guides verlassen!