Das Pindos-Gebirge im Norden des Mittelmeerstaates gehört zu den noch weitgehend unentdeckten Reichtümern des Landes. Ein wahrer Schatz mit der tiefsten Schlucht der Welt, verwunschenen Dörfern und einer Gastfreundschaft, die ihresgleichen sucht. Autorin Orla Thomas hat sich hier auf eine Wanderung gemacht – fünf Tagesetappen zum Nachlaufen.
"Du musst alles probieren“, sagt Elli Papageorgiou und stößt die Tür zur Küche ihres kleinen Cafés zum zehnten Mal auf, diesmal mit einem Krug Sauerkirschsaft beladen. Ihr Blick reicht – keine Widerrede. Das Gefäß landet auf dem Tisch, der sich bereits vor Essen biegt: geräucherte Würstchen, grüne Oliven, Knoblauchbrot mit Tomatenhäufchen, Kuchen, in Sirup ertränkt. „Wanderer brauchen Energie“, sagt Elli und verschwindet gleich wieder. Vermutlich, um noch mehr gefüllte Teller zu holen. Philoxenia, ein alter Ausdruck für Gastfreundschaft, ist in Griechenland nicht nur ein Wort, sondern Lebensstil. Sie sitzt tief in den Herzen der Menschen, und nirgendwo offenbart sie sich mehr als beim Essen. Es mag einem auf den bekannten Inseln abgedroschen erscheinen – hier, im entlegenen Zagoria, fernab aller Touristen, kann man sicher sein: Wer als Fremder kommt, geht als Freund. 46 Dörfer gibt es in Zagoria, Kapesovo ist das kleinste von ihnen. Jahrhundertelang waren schmale Fußwege die einzige Verbindung zwischen den Dörfern – heute bieten sie die schönsten Strecken durch die Gegend. Die größte Attraktion, die Vikos-Schlucht, der Grand Canyon Griechenlands, erreicht man bis heute nur zu Fuß. Das ist auch gut so, denn der Weg führt immer an einem Dorf vorbei, in dem einen Einheimische ein Glas Tsipouro in die Hand drücken. „Jamas!“, ruft Elli und füllt zwei Gläser randvoll mit dem Anisschnaps. Prost! „Und jetzt wird gegessen!“ Schließlich muss man ordentlich Energie tanken für die fünftägige Wanderung, die am nächsten Morgen von hier aus startet.
10 Kilometer, 3,5 Stunden
900 Meter tief stürzen die Felswände hinab bis zum Fluss Voidomatis. Ein bisschen ungläubig und im besten Fall schwindelfrei steht man dort oben und blickt runter in die Vikos-Schlucht. Irgendwo taucht bestimmt gleich ein Werbebanner auf, denke ich. „Wir machen den Weg frei“ oder so ähnlich. Aber es ist keine Promotion, sondern der 3-D-Blick vom Aussichtspunkt in Beloi, angeblich der beste, da sind sich die Einheimischen einig. Der Pfad hierher führt über unzählige Treppenstufen, die senkrecht entlang der Schluchtwand bis hoch nach Vradeto verlaufen. Einst trotteten hier Esel bergauf und bergab, heute verkaterte Wanderer. Als der Weg flacher wird, stoße ich auf ein paar Bienenstöcke, von einen Elektrozaun umsäumt. Zum Schutz vor Braunbären, wie ich später erfahre, nicht unüblich in dieser Gegend. Ein Stoßgebet kann man gleich nebenan in einer kleinen Kapelle losschicken. Danach geht es weiter durch den Wald, bis – endlich – die Bäume den Blick auf die Schlucht freigeben. Dunst liegt im Tal und das Flussbett schlängelt sich wie der Schwanz einer Riesenbestie durch die Landschaft. Kein Wunder, dass die Kapesover, die ich bei meiner Rückkehr auf dem Dorfplatz treffe, hier Bier trinken, das „Mythos“ heißt. Sie feiern heute das Fest des Heiligen Elias, Musiker spielen auf, es wird gegrillt. Später, als es dunkel wird, erlebe ich den zweiten Mythos des Tages: sie tanzen. In Kreisen, die immer größer werden, ein Mann schert aus, legt ein Solo auf dem Tisch ein, bis alle Gläser zerbrochen sind. Alles klatscht, johlt, hält sich die Bäuche vor Lachen. Und ich bestelle dann doch noch ein „Mythos“.
Text: Orla Thomas, Deutsche Bearbeitung: Miriam Collée, Fotos: Justin Foulkes
Den vollständigen Artikel mit alen weiteren Stationen der Tour finden Sie in der Januar/Februar-Ausgabe 2017 des Lonely Planet Traveller.