ReportageIsland: Da töltet eine Herde Pferde

© Lottie Davies

Willkommen an einem geradezu abenteuerlichen Ort: Island! Hier laufen die Rösser anders als anderswo (nämlich im berühmten Töltgang). Dort treiben Elfen ihr Unwesen. Und Bergkönige scheuchen mit Urlaubern Schafe durch die Wildnis. Seltsam. Und sehr schön.

Der Anblick erinnert an ein biblisches Epos: 2000 Schafe laufen durch eine Wüste aus schwarzem Lavagestein. Über ihnen strahlt der Himmel leuchtend blau. Die Luft ist erfüllt vom Blöken der Tiere. Hin und wieder bricht ein Schaf aus und läuft einen der steinigen Hügel hinauf, von dem es wieder heruntergelotst werden muss. Hirten – manche zu Fuß, andere auf stämmigen Islandpferden – umkreisen die Herde rufend und wild gestikulierend. So halten sie die Tiere zusammen. Ein paar Jeeps mit Ausrüstung für die kommenden Tage rumpeln langsam hinter ihnen her. Die Hauptdarsteller in dieser archaischen Szene sind seit über tausend Jahren die gleichen: Isländer, Schafe, Pferde. Wir sind beim alljährlichen Viehabtrieb in Landmannalaugar im Südwesten Islands, nahe des Vulkans Hekla. Fremde, die reiten können, dürfen als Greenhorn an dem Spektakel hoch zu Ross teilnehmen, Nicht-Reiter patrouillieren besser zu Fuß mit. Wildwest im hohen Norden Europas!

Wir laufen seitlich der Herde. Ein beson­ders störrisches Mutterschaf bricht immer wieder aus. Wir versuchen, es daran zu hindern davonzurennen. Fünf Tage lang sind wir als Aushilfshirten unterwegs in einer der beeindruckendsten Gegenden der Insel: Landmanna­laugar, vier Stunden Autofahrt von der Hauptstadt Reykjavic entfernt, ist eine urweltlich anmutende Landschaft aus Vulkanen, moosbewach­senen Hügeln und heißen Quellen.

Der harte Kern der Truppe besteht aus einem Dutzend Bauern, ihren Familien und Freunden. Die wichtigsten Mitglieder beim Schafabtrieb sitzen hoch zu Pferd. Allen voran reitet ein Mann mitt­leren Alters, dessen schäbige Reitausrüstung darüber hinwegtäuscht, wie bedeutend er hier ist. Er manövriert sein Pferd gekonnt zwischen den schroffen Felsen hindurch. Mit wenigen Gesten schickt er eine Gruppe Reiter los, um die Schafe auf der anderen Seite des Tals zusammenzutreiben. Er heißt Kristinn Gunnarsson. Er ist der „fjallkonungur“, der Bergkönig.

Seit mehr als 30 Jahren leitet Kristinn den jährlichen Schafabtrieb durch das zerklüftete, menschenleere Hochland. Jeden September treiben Landwirte und ihre Helfer im ganzen Land ihre Schafe unter der Leitung eines Bergkönigs von den Sommerweiden herunter, auf denen die Tiere sich freilebend ausgetobt haben. Ein beinharter Job, auch angesichts der riesigen Zahl der Vierbeiner: In dem zweitgrößten Inselstaat Europas kom­men auf circa 300.000 Menschen und 70.000 Pferde mehr als 500.000 Schafe.

Wir werden die Tiere in einem 350 Quadratmeilen großen Gebiet einsammeln, 72 Kilometer bis zu den Sortier­ställen führen und von dort zum Überwintern an ihre Besitzer verteilen. Kein Wunder, dass hier alles so altertümlich erscheint: „Wir haben ein paar Dinge modernisiert, aber im Grunde machen wir immer noch alles genau so wie unsere Vorfahren“, sagt der Bergkönig Kristinn.

Wichtigste Begleiter sind dabei nach wie vor die Pferde. Natürlich! Die Isländer sind ganz vernarrt in diese Tiere. Weil sie einzigartig sind und eigenbrötlerisch wie sie selber. Kleiner, stämmiger, robuster, agiler und gelassener als ihre Artgenossen anderswo, ist die heimische Rasse mit dem dicken Fell perfekt angepasst ans harsche Klima und das unebene, vulkanische Terrain. Jedes der Tiere kann übrigens einen lückenlosen isländischen Stammbaum vorweisen. Wird eines einmal fort­gebracht, darf es nie wieder zurück. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit keine fremden Krankheitskeime die Insel erreichen.

Die Wikinger, die Island im 9. Jahr­hundert besiedelten, holten die robusten Vierbeiner hierher. Sie fanden eine un­bewohnte Insel vor, die nicht von dieser Welt zu sein schien – düster, mit peitschenden Winden und einer von aktiven Vulkanen gezeichneten Landschaft. Ein extremer Ort: Im Winter wird es gerade mal vier Stunden hell am Tag, in den kurzen Sommern kaum dunkel. Der Regen greift durch den erbarmungslosen Wind von allen Seiten an, sogar von unten. Wer tapfer genug war, hier zu überleben, musste sich der Natur unterordnen.

Die mutigen Einwanderer besiedelten die Insel, brachten Vieh mit Booten herbei und hatten Islands Wälder in kurzer Zeit abgeholzt. Touristen suchen deshalb noch heute erfolglos nach einem Baum auf den moosbedeckten Hügeln. Ohne Holz für den Bau von Booten waren die Siedler auf ihre Pferde angewiesen. Sie wurden das einzige Transportmittel. Und Nahrung. Nahrung?! Fragt man einen Einheimischen heute, ob er die Tiere mag, antwortet der trocken: „Ja, sie schmecken köstlich.“ Humor auf isländisch. Aber auch Realität. Die Vierbeiner sind hier nicht zum Ausreiten oder Dressieren geboren. Sie ackern für die Landwirte und werden danach kurzerhand verspeist.

Man merkt ziemlich schnell: Abgeschnitten vom Rest der Welt haben die Menschen sich hier ihren eigenen Kosmos bewahrt. Der Isländer ist verallgemeinert gesagt ein bisschen schräg, sehr naturverbunden und äußerst gelassen. Ja, er hat so eine Riesenportion Ruhe in sich, dass man als hektischer Städter fast neidisch wird. Die DNA von Menschen und Tieren, die Sprache und viele der Bräuche haben sich ungestört auf dem abgelegenen Eiland entwickelt. Und so passiert es, dass man als Fremder auch anno 2013 noch diese hochgewachsenen, rothaarigen Einheimischen auf ihren 130 Zentimeter kleinen Islandpferden dabei be­obachtet, wie sie ihre zotteligen Schafe in einem schier unverständlichen, nahezu unveränderten altnordischen Dialekt anbrüllen.

Zurück zum Abtrieb: Bevor wir die Schafe durchs Land scheuchen, gönnen wir uns vorsichtshalber eine Stunde Reitunterricht. Es geht zum Hof Hestheimar, anderthalb Stunden außerhalb von Reykjavík. Der Reitlehrer heißt Marteinn Hjaltested und ist ein kräftiger Mann mit – logisch – rotblondem Haarschopf und gegerbter Haut. Er und seine Frau Lea führen eine Farm. Von ihrem Küchenfenster aus kann man die verschneite Spitze des Eyjafjallajökull sehen, der Vulkan, dessen Namen die ganze Welt auszusprechen versuchte, als er im Jahr 2010 ausbrach.

Leicht und leise wie Bergziegen sollen sich die Islandpferde reiten lassen, sagt man. Immerhin: Schon nach wenigen Runden in der Halle dürfen wir draußen einen Pfad entlangtraben, immer bergab durch die, na klar, baumlose Landschaft. Die Pferde spuren. Beim geringsten „Hoo!“ und einem festeren Griff der Zügel bleiben sie folgsam stehen, durchqueren sogar ohne zu murren einen Forellenbach.

„Okay“, sagt Lea, „lasst uns tölten.“ Tölten?! „Eine spezielle Gangart“, erklärt sie, „für die unsere Pferde berühmt sind. Man wird auch bei einem schnellen Ritt nicht im Sattel durchgeschüttelt. Ihr werdet’s sehen!“ Sagt’s und saust mit ihrem Vierbeiner los. Wir hinterher. Und richtig, wir gleiten förmlich durch die Landschaft. Lea weist uns an, noch tiefer im Sattel zu sitzen, die Zügel kürzer zu fassen und ein Schnalzgeräusch mit der Zunge zu machen. Die Pferde werden schneller. Angenehm gleichmäßig und kraftvoll laufen sie. Ein großartiges Vergnügen!

Wir verringern das Tempo erst, als Lea auf ein Gebäude in der Ferne zeigt. „Das war früher unser Gemeindehaus“, erzählt sie. „Da spielten die Leute Karten und vergnügten sich halt. Heute nicht mehr.“ Was ist passiert? Lea zögert kurz: „Man erzählt sich, dass es dort spukt.“ Wie bitte? „Na ja, ich selber glaube nicht an Geister“, erklärt sie, „aber die meisten Isländer sind sehr abergläubisch.“ Lea sagt das so sachlich, als würde sie über einen verstopften Abfluss reden. Es spukt also auf Island, so so.

Nach dem Ausritt bestätigt Marteinn bei einer Tasse heißer Schokolade dieses Mysterium: „Da draußen lauern uner­wartete Gefahren auf uns Reiter.“ Er listet eine Reihe von Vorfällen auf, bei denen sich die Pferde seltsam verhielten. Bei einem der schlimmsten ging ein junges Tier durch und schleuderte Marteinn gegen einen Metallzaun. „Man weiß nie, ob es vielleicht die Elfen waren“, sagt er mit einer Bestimmtheit, dass nicht mal ein Wissenschaftler an der Existenz der seltsamen Wesen zweifeln würde. Fakt ist: Etwa die Hälfte der Isländer glaubt an die Existenz von Elfen. Bei der magisch anmutenden Landschaft, die von dampfenden, nach Schwefel riechenden Quellen und bizarren Lichtreflexionen bestimmt ist, scheint es immerhin möglich, dass sich hier Geisterwesen wohlfühlen.

Wie die Pferde und die Einwohner sollen auch die Elfen so ihre Eigenarten haben. „Sie laufen auf spindeldürren Beinen, haben große Ohren, wuscheliges Haar und werden frech, wenn man in ihr Terrain vordringt“, sagt Marteinn ernst und nippt an seinem Kakao. Nach dem schlimmen Vorfall holte er übrigens eine Frau mit hellseherischen Fähigkeiten her, eine Art Elfenflüsterin. Ihr sei es gelungen, versichert er, Frieden mit den Fabelwesen zu schließen. Vorerst.

Am nächsten Tag geht’s mit dem Mietwagen zurück ins Hochland. Eine Stunde nördlich vom Hof Hestheimar wechselt die Straße in einen unebenen Weg, der sich hinauf in die Berge windet. Schilder warnen davor, in einem nicht ausreichend ausgerüsteten Fahrzeug weiter­zufahren. Auf Island sind nur wenige Straßen geteert, viele Strecken sind un­berechenbar, meist steinig. Selbst die Wege haben hier so ihre Eigenarten und das Reisen dauert länger als geplant.

Wir kommen noch rechtzeitig zum Abendessen. Die Gruppe verbringt die Nächte in Berghütten. Das Esszimmer ist schwach beleuchtet. Wir fühlen uns wie im vergangenen Jahrhundert: Selbst gestrickte Socken hängen über der Seite einer Schlafkoje, die Kinder spielen Karten. Und es gibt die rustikale Leibspei­se der Isländer, geräuchertes Lamm. Dazu dampfende Kartoffeln, Rote Bete und Erbsen. Gegen 22 Uhr beginnen die Männer, ihren Saft großzügig mit Whiskey auf­zupeppen. Die Stimmung wird heiter. Draußen funkelt der Himmel von Sternen und der mystische Klang von folkloristischen Liedern steigt in die eiskalte Luft.

Am frühen Morgen sattelt die Gruppe wieder auf. Ein Lette namens Pavel ist Neuling, aber nach einer kurzen Einweisung reitet er los. Nun schwingen sich alle auf die Pferde. Tapfer versuchen wir, uns so viel wie möglich von der Reitstunde ins Gedächtnis zu rufen. Unsere Aufregung steigert sich dennoch von Minute zu Minute. Das Gelände ist schwierig zu bezwingen. Wir reiten felsige Berghänge hinauf und hinab. Tags zuvor stürzte ein Reiter und wurde mit zwei gebrochenen Rippen mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen. Uns fällt schlagartig ein: Man weiß nie, ob es die Elfen waren …

Die Aufgabe ist Gott sei Dank einfach: „Umzingelt die Schafe so, dass sie in einem Pulk laufen müssen“, lautet Kristinns Befehl. Wir reiten bergauf über brüchiges Vulkangestein. Die Aussicht oben haut uns fast aus dem Sattel: Ein weites Tal aus schwarzem Schotter erstreckt sich unter einem saphirblauen Himmel. Der verschneite Gipfel des Vulkans Hekla thront über allem.

Die Herde zählt jetzt schon 5000 Tiere und ergießt sich bergab wie ein Strom weißen Wassers. Wir hinterlassen eine staubige Wolke im Tal. Auf der anderen Seite beginnen wir wieder den Aufstieg. Von oben ist das Dorf Afangagil zu sehen. Die Schafe scheinen es wiederzuerkennen, denn sie rennen auf die Sortierställe zu. Wir sind von den Elfenstreichen verschont geblieben, wenn auch erschöpft vom Reiten. Und wir glühen – vor Sonnenbrand und Begeisterung.

Gelassen beobachten wir am Ende, wie die Schafe ihren Besitzern zugeordnet werden. Es ist Zeit, den Hofstaat von Bergkönig Kristinn zu verlassen. Wir erklimmen den Hügel für einen letzten Blick auf den Hekla und stolpern auf dem Rückweg über etwas, das aus dem Geröll herausragt: ein rostiges Hufeisen! Wir stellen es uns als Trophäe auf dem Kaminsims vor: Es bringt Glück und verlockt Besucher dazu, Fragen über unsere Reitkünste zu stellen. Stolz legen wir es in den Kofferraum. Zurück in Reykjavík ist das Huf­eisen verschwunden. Verzweifelt suchen wir – bis uns einfällt: Vielleicht waren auch hier die Elfen im Spiel?

 

Text: Christine Dohler und Marcel Theroux

Das Wichtigste

Hinkommen:

Rumkommen:

Das Land lässt sich im Sommer mit dem Bus bereisen (bsi.is). Die bessere Wahl ist ein Mietwagen (z.B. Höldur, holdur.is). Bezahlbare Alternative: Inlandsflüge (Air Iceland, airiceland.is). Gute Touren bieten Arktische Abenteuer (arktischeabenteuer.de) und Katla Travel (katla-travel.is) an.

Mehr Infos:

Mehr über das Land finden Sie im „Lonely Planet Island“ (MairDumont, 19,95 €) und auf visiticeland.com.

Island-Aktivitäten

Polarlichter-Watching

Es gibt auf Island keinen Ort mit Sichtgarantie. Daher hoffen Polarlichter-Beobachter im Winter auf klaren Himmel (http://en.vedur.is/weather/forecasts/aurora). Beliebte Basis für das Naturschauspiel ist das Hotel „Rangá“ im Süden. Bei akutem Lichteinfall wird man nachts geweckt (hotelranga.is).

Wandern und stricken

Schräg, schräger, Island: Die Einheimischen verarbeiten die Wolle ihrer Schafe leidenschaftlich zu Pullovern und Schals, auch im Laufschritt. The Icelandic Knitter bietet siebentägige Strick-Wander-Gruppenreisen für Handarbeitsfans an (icelandicknitter.com).

Auf dem Rücken der Pferde

Will man beim Schafabtrieb mitreiten, braucht man Kondition und Erfahrung. Die siebentägige Tour vermittelt Island Erlebnisreisen (islanderlebnis.de). Will man nur zuschauen, findet man Termine beim Bauernverband (bondi.is). Bei Icelandic Farm Holidays sind Höfe mit Pferden im ganzen Land aufgelistet (farmholidays.is). Hestheimar veranstaltet Tagesausritte (hestheimar.is).

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