Islands wilde Westküste wartet nicht nur mit erloschenen Vulkanen und vereisten Wasserfällen auf. Hier begegnet man auch Schafen, die nach etwas Unsichtbarem Ausschau halten. Und Menschen, die an Riesen und Gnome glauben. Willkommen zu einem fantastischen Abenteuer in fünf Akten.
Es ist ein klarer Tag, als sich die beiden Trolle aufmachen, um ins Tal runter - zuwandern. Die Bergkuppen sind noch mit Schnee bedeckt, die Wiesen in der Ebene aber sind bereits saftig grün und kündigen den Sommerbeginn an. Wirr zerzauste Haare fallen den Trollen in ihre bleichen Gesichter, als sie aufgeregt den Berg hinunterstürmen. Plötzlich endet ihr Ausflug jedoch jäh. Aus dem Nichts erscheint eine gigantische Hand und fegt die Unholde ins Meer …“
Ingi Hans legt die Holzfiguren zur Seite, deutet auf sein Puppenhaus und sagt: „Das ist mein kleines Theater. Die Kinder lieben es, wenn ich ihnen Geschichten vorspiele.“ Ingis Hütte, die am Ortsrand des charmanten Fischerdorfes Grundarfjörður auf der Halbinsel Snæfellsnes steht, wird von allen nur das „Haus des Geschichtenerzählers“ genannt. Und wie er da so inmitten eines Sammelsuriums aus verrosteten Kassen, Schiffslaternen, Zinnautos und ledergebundenen Büchern sitzt, glaubt man ihm sofort, dass er mit Elfen, Trollen und Zwergen spricht und enge Kontakte mit dem „versteckten Volk“, dem Huldufólk pflegt, wie die Isländer es nennen. Zumal Ingi, dessen Kinn ein weißes Bärtchen ziert, selbst ein bisschen so aussieht wie ein Zauberer. Er habe sein ganzes Leben lang schon Geschichten erzählt, verrät er. „Mein Vater war Fischer, und während er auf dem Meer unterwegs war, saß ich im Hafen und lauschte den Erzählungen eines alten Mannes, der die Netze flickte. Sobald mein Vater wieder zurück war, rannte ich zu ihm, um ihm die neuesten Geschichten zu verraten.“
Die Tür schwingt auf und Ingis Enkel rauscht mitsamt eines kleinen Schneesturms ins Haus. Kurz umarmt er seinen Großvater, dann marschiert er schnurstracks zum Puppenhaus und beginnt zu spielen. „Im Grunde sind wir alle Geschichtenerzähler“, sagt Ingi. „Das hat wohl mit unseren keltischen Wurzeln zu tun, mit der Landschaft, die uns umgibt und mit den langen Wintern auf Island: Um durch die kalten Nächte zu kommen, begannen wir, Legenden und Mythen zu sammeln, die ein wenig Leben in die Bude bringen.“ Und, glaubt auch er an die Existenz des Huldufólks? „Ich bin bisher noch nicht mit ihnen in Berührung gekommen.“ Ingi schmunzelt. „Aber wenn man alles, das man nicht kennt oder nicht erklären kann, von vornherein als Unsinn abtut, hieße das ja, an nichts zu glauben.“ Er deutet auf einen großen, dunklen Berg, der sich hinter dem Ort erhebt. „Und natürlich haben wir viele Trolle in Island, man sieht sie ja überall.“ Mit dem Finger zeichnet er die Umrisse des Bergrückens nach. „Schau, und dieser hier, das ist ein weiblicher Troll.“
Hinter Grundarfjörður führt die Straße die Küste entlang immer weiter westlich durch die Düsternis. Farben haben es auf Snæfellsnes schwer, sich durch den tiefen Winter zu kämpfen. Einige schaffen es dennoch. Ein paar goldfarbene Grashalme etwa, die vorwitzig aus dem Schnee ragen, der die schwarzen Strände der Halbinsel bedeckt, oder die türkis strahlenden, meterdicken Eisschichten, die sich die rauen Felsen hinabwinden. Und der schmale, pinkfarbene Streifen, der bei Sonnenaufgang ganz kurz am fahlen Himmel erscheint, als wir am Kirkjufellsfoss vorbeifahren. In der eisigen Kälte ist der Wasserfall gefroren. Wie ein stummer Pförtner steht er vor dem hexenhutförmigen Berg, mit dem er für alle Ewigkeit vereint ist. Ragnhildur Sigurðardóttir deutet auf die abgebrochenen Eiszapfen, die den zugefrorenen Fluss am Fuße des Wasserfalls bedecken. „In der isländischen Mythologie gelten sie als die Kerzen der Grýla“, erzählt sie, während sie durch den Schnee stapft. ,,Dieses menschenfressende Trollweib hatte 13 Söhne: Die ,Jólasveinar‘, also ,Weihnachtsgesellen‘, ärgern die Kinder an den 13 Tagen vor Weihnachten.“
Ragnhildur, die den Snæfellsnes-Regionalpark managt, fasziniert, wie eng die Land schaft mit der Mythologie ihrer Heimat verwoben ist. Wie viele Isländer kann auch sie ihren Familienstammbaum bis in die Zeit zurückverfolgen, in der sich die ersten Siedler auf der Insel niederließen. Wikinger, die vor einem Jahrtausend in Norwegen Schiffe bestiegen und über den Atlantik herüberruderten. „Island hat vielleicht kein architektonisches Erbe. Dafür haben wir ein unerschöpfliches Repertoire an Geschichten“, sagt sie. „Egal wo wir hingehen, wir wissen, wer dort einst wohnte, wen er liebte, wer seine Feinde waren.“ Ob Abenteurer oder Pioniere, Abtrünnige oder Ausgestoßene: Die Menschen, die es an die unwirtliche Küste der kargen Atlantikinsel schafften, hatten einen Hang zur Übertreibung und neigten überdies dazu, sich selbst Superkräfte anzudichten, um Plünderer von ihren Farmen fernzuhalten. Je öfter die Legenden, die sich um sie rankten, im Laufe der Generationen weitererzählt wurden, desto fantastischer wurden sie. Die Saga von Bárður Snæfell sás, einem der ersten Siedler der Region, ist ein gutes Beispiel dafür. Demnach war er der Sohn eines Halb-Riesen, der seine Kinder in die Verbannung schickte. Bárðurs Schwester wurde vom grausamen Vater auf einer Eisscholle ausgesetzt, die Richtung Grönland trieb. Er selbst wurde zu einem Leben auf den verschneiten Feldern des Snæfellsjökull- Gletschers verdammt. „Unsere Mythen strotzen vor Magie wie unsere Natur“, erzählt Ragnhildur, während sich die Sonne über den Rand des Horizonts schiebt. „Jede Farm, jeder Berg hat seine Geschichte. Die Leute erzählen nur ungern davon, weil sie nicht für abergläubisch gehalten werden wollen, aber irgendwann kommt jede Sage zur Sprache.“
Text: Amanda Canning, Deutsche Bearbeitung: Elena Rudolph, Fotos: Jonathan Gregson
Was es sonst noch Wissenswertes zu Island gibt, erfährst Du in der Januar-Ausgabe 2018 des Lonely Planet Traveller.