Wandern ist öde? Dann waren Sie noch nie in Wales. Seit der Wales Coast Path eröffnet wurde, kann man die gesamte Küste des kleinen Landes erlaufen – immer am Meer entlang, zwischen rauen Naturgewalten und atemberaubenden Filmkulissen. Ein spektakuläres Naturerlebnis.
Los geht’s mit einem Streifzug durch die dramatische Kulisse der Halbinsel Marloes, einem denkmalgeschützten Küstenstreifen in Pembrokeshire gegenüber der Bride’s Bay. Vom Deer Park in der Nähe des Fischerorts Martin’s Haven läuft man immer am Meer entlang Richtung Osten bis zur kilometerlangen Landspitze Marloes Sands. Halten Sie die Augen auf! Vielleicht entdecken Sie unterwegs ein paar Teletubbies oder Meister Yoda.
Laufstrecke: 6,5 Kilometer (hin und zurück)
Eigentlich fehlt nur Tinky Winky. Ungläubig bleibt man vor dem kleinen, gebogenen Rohr stehen, das wie das Periskop eines U-Boots aus dem Rasen guckt, und wartet auf ein buntes Wesen mit Antenne auf dem Kopf. Stattdessen winken Bob Marshall-Andrews und dessen Frau Gillian hinter den runden Fensterlöchern. Vor zehn Jahren bauten die beiden mitten in die Hügel des Druidstone-Kliffs in Pembrokeshire ihr Avantgarde-Ferienhaus. Nicht etwa auf die Wiese, sondern darunter. Unter dem Grasdach blitzt wellenförmig eine Glasfront hervor, durch die man quer durchs Wohnzimmer auf die Bride’s Bay hinaussehen kann. Und da das Ganze fatal ans Winke-Winke-Land erinnert, nannten die Druidstoner es von Anfang an das Teletubbie-Haus. „Wer in Wales mitten im Nationalpark eine Baugenehmigung beantragt, muss sich was einfallen lassen“, erklärt Marshall-Andrews. Sein Trick hieß: Mimikry, das unsichtbare Haus. „Wir wollten die fantastische Landschaft so wenig wie möglich stören“, das war sein Rezept.
Direkt vor seiner Haustür schlängelt sich – ganz ungestört – Wales’ berühmter Coast Path am Meer entlang, der die gesamte nationale Küste des kleinsten Landes im britischen Königreich säumt. Unten am Strand sieht man Ponyreiter durch den Sand traben, dahinter versuchen zwei Wellenreiter ihr Glück in der Gischt. „Er macht etwas Seltsames mit einem, dieser Wanderpfad“, sagt Marshall-Andrews nachdenklich. „Es liegt am Repetitiven. Kaum hat man eine Landzunge umrundet, eröffnet sich dahinter die nächste. Irgendwann hört man auf zu staunen und wird eins mit der Landschaft. Das ist wie meditieren.“
Würde man die ganzen 1400 Kilometer von Queensferry im Norden bis nach Chepstow im Süden wandern, bräuchte man knapp sieben Wochen. Wer alle Burgen, Schlösser und Klöster sehen will, die auf dem Weg liegen, vermutlich länger. Jeder hat hier seinen eigenen Lieblingsabschnitt. Der von Bob und Gillian führt direkt ins „Dru“, ihr Lieblingsrestaurant. Es thront hoch oben auf einer Felsklippe, das „Druid stone Hotel“, ein hübsches viktorianisches Steinhaus. Würde draußen nicht ein kleines Mädchen fluchend einer Katze hinterherjagen, könnte man fast meinen, man sei in einer Rosamunde-Pilcher-Filmkulisse. Doch glücklicherweise ist hier nichts aus Pappe, sondern alles wunderbar echt und ein bisschen bohemian. Das liegt nicht nur an den Besitzern Gus Bell, seiner Frau Beth Wilshaw, Tochter Seren und Kater Yoda, sondern auch an den knarzenden Holzböden, den beladenen Wänden, dem Licht, das vom Meer in die Zimmer scheint – und natürlich an Gus’ hervorragender Küche. „Manche kommen im Neoprenanzug zum Abendessen, andere im Frack“, erzählt Beth, „hier kann jeder machen, was er will.“ Frei nach Shakespeare – as you like it. Dann entschuldigt sie sich und geht ans Telefon. „Hello my dear“, hört man sie raunen und dann: „Ob wir einen Pool haben? Ja, Schätzchen, er ist ziemlich groß und ziemlich salzig.“
Der „Pool“ vor dem „Druidstone“ reicht bis zur Halbinsel Marloes, dem westlichen Ausläufer von Wales. Hier beginnt eine der schönsten Wanderungen weit und breit: der Weg nach Marloes Sands. Meer so weit das Auge reicht, ein märchenhaftes Licht, die dunklen Umrisse der unbewohnten Insel Skomer in der Ferne, dazu ein Wind, der einen fast umbläst. Silbergraue Möwen und schwarze Feuerkrähen mit scharlachroten Schnäbeln und Füßen stürzen sich kopfüber in ihn und gleiten scheinbar schwerelos durch die Böen. Die Erde ist feucht und weich, es riecht nach Farn, Heide und Gras, Grillen zirpen gegen die Brandung an. Das Meer schleudert mit gigantischer Wucht weiße Schaumwellen ans Kliff. Mittendrin drehen und suhlen sich zwei dicke Seehunddamen wie im Whirlpool. Kormorane fliegen tief über dem Wasser, ein Dreimaster segelt vorbei, über ihm gleiten mit lautem Geschrei Silbermöwen. Und mittendrin in diesem Schauspiel übt im lila Heidekraut eine Frau im gelben Yogatop den Sonnengruß. „Namaste!“, möchte man ihr zurufen, doch sie ist schneller: „Croeso i Gymru!“ Willkommen in Wales.
Von dem verschlafenen Marktstädtchen Laugharne an der Meeresmündung des Flusses Taf führt der Weg auf dem Deich entlang durchs romantische Carmarthenshire bis zum Strand nach Pendine Sands. Zurück geht es über Kuh- und Pferdeweiden mitten durchs Land
Laufstrecke: 10 Kilometer (Rundweg)
Bunt getünchte Häuser mit winzigen Fenstern schmiegen sich an der Kopfsteinpflasterstraße aneinander, „blind wie Maulwürfe“, wie der britische Dichter Dylan Thomas in einem Stück schrieb. Die Inspiration dafür fand er in dem schrulligen Örtchen Laugharne im Südwesten von Wales, in das sich Thomas verliebte. „Der seltsamste Ort der Welt“, so schrieb er einer Freundin, liegt an der Mündung des Flusses Taf. Zweimal täglich überspült die Flut den Parkplatz unten am Dorfplatz. Als wollten sie sich davor schützen, haben sich die Geschäfte und Pubs dort eng zusammengerottet. Die Bewohner tun es ihnen gleich, am liebsten bei einem Bierchen im „Brown’s Hotel“, laut Selbstauskunft eine „Bar mit Zimmern“. Dank ihres berühmten trinkfesten Stammgastes Thomas wurde die wohnzimmergroße Gaststube längst selbst zur Berühmtheit: Charles und Camilla, Mick Jagger, Patti Smith – sie alle kippten hier so manches Glas, und wenn man lang genug kippt, kann man selbst als Nichtwaliser irgendwann akzentfrei Laugharne sagen („Laarn“).
Bei Ebbe führt vom Schloss ein kleiner Pfad hinunter zu Thomas’ Bootshaus, in dem er sich 1949 niederließ. Im Schuppen, in dem er die meiste Zeit schrieb, ist bis heute alles unverändert, sogar Originalnotizen liegen noch auf dem Schreibtisch. Alles in diesem Ort scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Wenn man den Deich entlanggeht, vorbei an Wiesen, Kühen, Pferden und verwitterten Bauernhöfen, läuft man wie durch ein altes Gemälde. Schwalben jagen über den Deich, werfen sich in den Wind und lassen den langsamen Wanderer hinter sich, bis sich endlich, endlich das Meer vor einem öffnet – und die ganze Welt vor einem liegt.
Die Schriftstellerin Jay Griffiths ist von hier aus bis zur Arktis und zum Amazonas gereist, um für ihre Bücher zu recherchieren. Doch immer wieder kam sie zurück nach Wales. Reisen sei ihre Inspiration, sagt sie, eine davon. Die andere sei Wales: „Dieser endlos lange, breite Küstenstreifen ist eine gute Basis für endlose, breite Gespräche. Der sichtbare und der geistige Horizont beeinflussen sich gegenseitig.“ Hinzu komme: Man atme hier langsamer, sagt sie, weil man sich automatisch dem langen Atemzug einer Welle anpasse, bis sie bricht. Und so geht man zurück, atmend und wippend über die Felder, im Takt der Wellen, den Geruch von Meer in der Nase – und den Gedanken an ein frisch gezapftes Bier im „Brown’s“ im Kopf.
Text: Horatio Clare, Deutsche Bearbeitung: Miriam Collée, Fotos: Pete Seaward
Den vollständigen Artikel mit weiteren Routen finden Sie in der Mai-Ausgabe des Lonely Planet Traveller.