Fremde KulturenKann Reisen von Vorurteilen befreien?

Reisen bildet, heißt es. Es tut aber noch viel mehr: Es hilft Vorurteile abzubauen. Denn das Schlüsselwort ist nicht Neugier, sondern Offenheit.

Lonely Planet Autorin Rosie Bell verbrachte als Tochter eines Diplomaten eine erhebliche Zeit ihrer Kindheit und Jugend auf dem afrikanischen Kontinent. Das Reisen als junge Erwachsene half ihr schließlich, die in ihrer Kindheit angesammelte Voreingenommenheit gegen Europäer abzubauen und die Welt mit frischen Augen zu betrachten, ohne zu werten. Aus ihrer Erfahrung berichtet sie darüber, wie Reisen hilft, Vorurteile abzubauen:

Als junges Mädchen, das durch Afrika reiste, war ich überall von den vielen Wundern des Kontinents überwältigt - angefangen bei der würzigen Okra-Suppe und dem köstlich duftenden Jollof-Reis über die farbenfrohen Herero-Frauen bis zur weitläufigen Kalahari-Wüste. Die Arbeit meines Vaters als Diplomat führte uns nach Namibia und Nigeria und damit in die dortigen Kulturen ein, lange bevor ich überhaupt sprechen konnte.

Und doch haben mich diese prägenden Jahre wenig davon abgehalten, eigene Vorurteile aufzubauen und zu hegen. Insbesondere gegen Europäer. Mir schien es, als ob meine familiären und religiösen Ideale einen starken Kontrast dazu darstellen, wie viele Europäer ihr Leben lebten. Das änderte sich erst als ich 13 war und meine Familie nach Amsterdam zog. Ich stellte fest, dass Europa voller sprachlicher, kultureller und ethnischer Vielfalt sowie unterschiedlicher religiöser Überzeugungen war - anders, als mich die Fernsehprogramme in meiner Kindheit glauben gemacht hatten.

Genau wie Mark Twain in seinem Buch "The Innocents Abroad" beschrieb, in der Deutschen Übersetzung "Die Arglosen im Ausland", wurde mir das Reisen zu einem unfehlbaren Elixier gegen die Krankheit der Vorbehalte und der Scheinheiligkeit.

Durch Reisen wurde ich in die Komplexität der Menschen und Kulturen eingeführt. Es ermöglichte mir zudem eine gute Gelegenheit zur Selbstreflexion, indem es mich zwang, hier und da zu vergleichen. Mein Weltbild veränderte sich.

Das Reisen umfasst vieles - von Geschichte über Kultur, Abenteuer, Natur, Essen und Trinken bis zu sportlichen Freizeitaktivitäten. Es kann (und sollte) viel mehr sein als Neugier, Reiselust und Eskapismus. Vielmehr ist Reisen das großartigste Mittel gegen jegliche Art von Vorurteilen, bewusste wie auch unbewusste. Doch erstaunlicherweise bleiben viele festgefahrene Überzeugungen über "andere" selbst bei weit gereisten Menschen bestehen. Das bloße Verlassen des eigenen Hauses reicht demnach nicht aus, um vorgefasste Meinungen nachhaltig abzubauen.

Vor meiner ersten Reise nach Argentinien schien sich mein Umfeld geradezu darauf eingeschworen zu haben, das Land mit teils unsinnigen Vorurteilen zu hassen. Die meisten Leute, die ich kannte, sagten mir voraus, dass ich sicher ausgeraubt werden würde. Bis heute ist allerdings Paris der einzige Ort auf der Welt, an dem mir das jemals passierte.

Viele der Warnungen, die wir über bestimmte Länder lesen, sind mit tief verwurzelten, teils gar rassistischen Gefühlen aufgeladen. Abfällige Urteile wie "dies sind gefährliche, schlechte Orte" mögen vielleicht gut gemeint sein, sind aber auf lange Sicht nicht hilfreich. In Gesellschaften mit wirtschaftlicher Ungleichheit und großer Armutsschere besteht immer eine gewisse Gefahr, nicht nur für Reisende. Aber kein Land der Welt ist davon ganz ausgenommen.

Erlaube dem Reisen, deinen Geist zu öffnen

Damit unsere Reisen positive kognitive Veränderungen auslösen können, müssen wir bereit sein, die Dinge mit frischen Augen zu sehen. Bereit sein, die Menschen, die Kultur und die Orte richtig auf- und anzunehmen, und nicht nur zu reisen, um schöne Selfies zu machen und Spaß zu haben an den touristischen Plätzen und Top Sehenswürdigkeiten. Wer Paris oder Rom besucht, sollte also nicht nur den Eiffelturm anschauen oder Münzen in den Trevi-Brunnen werfen.

Viele Menschen reisen, um sich ihrer Überzeugung über einen Ort noch einmal zu vergewissern. Sie besuchen beispielsweise Goa oder Bali, um ein spirituelles Erlebnis finden oder denken, dass eine Safari der einzig wichtige Grund ist, Afrika zu besuchen.

Damit das Reisen zu einer persönlichen Transformation beitragen kann, müssen mehreren Faktoren gemeinsam wirken - das besagt eine Studie des Journal of Current Issues in Tourism. Dazu zählt sie die Interaktion mit den Einheimischen, die Integration und die Reflexion über das Gesehene und Erlebte. Will man die Essenz eines Ortes und seiner Bewohner wirklich kennenlernen, ist es kaum hilfreich, die eigene häusliche Umgebung in den Hinterhof eines anderen zu verlagern. Genauso wenig kann man eine Woche in einem Resort in Cancún verbringen und hinterher behaupten, Mexiko zu kennen.

Reisen können nur dann zum Abbau von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen führen, wenn man sich persönlichen Begegnungen öffnet und mit den Menschen interagiert. Eine Harvard-Studie ergab, dass Gäste mit afroamerikanisch klingenden Namen von Airbnb-Gastgebern mit einer um etwa 16 % geringeren Wahrscheinlichkeit akzeptiert wurden als ihre weiß klingenden Reisekollegen.

Airbnb ist ein gutes Beispiel im Rahmen des Room Sharings bei Reisen, bei dem Namen den ersten Eindruck beeinflussen. Versteckte Vorurteile verhindern leider oft, dass Gastgeber mit genau den Menschen zusammenkommen, die helfen könnten, ihre Vorurteile abzubauen.

Unsere pawlowsche Konditionierung legt nahe, dass wir allzu oft in die eigene Falle tappen und immer wieder gleich auf Momente reagieren, die uns triggern: Dinge, Menschen, Erfahrungen, die wir früher einmal fürchteten, nicht mochten oder denen wir misstrauten - und die sich scheinbar wiederholen könnten. Dabei sollten wir nicht vergessen: Weil Rassismus menschengemacht ist, können wir ihn brechen. Mit anderen Worten: Je mehr Orte wir besuchen und je tiefer die Verbindungen sind, die wir mit den Menschen und ihrer Kultur eingehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir einander respektieren und freundlich miteinander umgehen.

Einige Vorurteile mögen vielleicht nicht offensichtlich und uns selbst gar nicht bewusst sein. Sie vergrößern jedoch trotzdem die wahrgenommene Distanz zwischen "uns" und "ihnen". Damit tun wir den anderen zumeist unrecht, denn nicht alle Menschen lassen sich über einen Kamm scheren. Trotz milder Gesetze konsumieren nicht alle Niederländer Marihuana und nicht alle Nordamerikaner sind laut.

In einer perfekten Welt kann Reisen zwar Vorbehalte abbauen, aber es hängt von Aufgeschlossenheit, Bewusstsein sowie der Absicht unserer Reisen ab. Wir können den kulturellen Zeitgeist eines Ortes und seiner Bewohner besser mitgestalten, wenn wir die Ärmel hochkrempeln und in ihre Kultur eintauchen. Es ist wahr, dass Reisen die Spinnweben überholter und verstaubter Vorstellungen wegwischt. Der Schlüssel jedoch ist die Bereitschaft dazu.

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Original-Artikel: Rosie Bell/Lonely Planet international

Deutsche Fassung: Ines Wagner

 

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