Das indische Madhya Pradesh ist Heim Tausender Tempel unterschiedlicher Epochen und Kulturen. Hierher zu reisen erweitert den Horizont.
Der heutige Bundesstaat Madhya Pradesh erstreckt sich großflächig auf dem mächtigen indischen Subkontinent und seit jeher versuchten unterschiedliche Herrscher, die Gegend einzunehmen. Jedes Reich, das über ein schlagkräftiges Heer verfügte, drang in die schier endlose, staubige Landschaft ein und hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in der Architektur und Kultur sowie auch in den Menschen. Die Region gilt als Kernland indischer Kultur und ist unermesslich reich an kulturellen Hinterlassenschaften - und dennoch im Westen noch wenig bekannt.
Es gibt unzählige Geschichten in Madhya Pradesh, die mit der Romantik von Rajasthan und dem Sirenengesang des indischen Südens mithalten können. Die meisten Reisenden jedoch rasen durch den Bundesstaat, machen gerade lange genug Pause für eine Tigersafari in einem der Nationalparks und verpassen oft genug die unzähligen Wunder der menschlichen Kultur, die hier zu finden sind.
Deshalb empfehlen wir unbedingt, auf der Reise von Rajasthan oder Uttar Pradesh Richtung Süden eine Weile hier zu verweilen: in Stätten mit der ganzen Pracht von Agra und Udaipur, aber nur wenigen Besuchern. In Madhya Pradesh liegen sagenhafte Tempel voller erotischer Darstellungen, faszinierende Kulturstätten, die einst von muslimischen Eroberern errichtet und buddhistische Stupas, die von einem reuigen Kaiser erbaut wurden. Dazu gibt es Paläste von märchenhaft reichen Maharadschas, die in den weiten Ebenen verteilt liegen und abenteuerliche Geschichten von einander bekämpfenden Reichen und der letztendlichen Sinnlosigkeit des Strebens nach Macht erzählen.
Die Großreiche, die auf den Ebenen von Madhya Pradesh aufstiegen und wieder vergingen und beinahe der Vergessenheit anheimfielen, hinterließen einen ungewöhnlich reichen Eindruck und schufen so eine aus Stein gehauene Landkarte ihrer Kulturen und Visionen. In der antiken Stadt Gwalior, nur einen Katzensprung von Agra entfernt, drehte sich bei der ehemaligen, reichen Tomar-Dynastie alles um Größe und Macht. Die hinduistischen Könige dieser mächtigen Dynastie errichteten das imposante Gwalior-Fort, um ihren Reichtum und Status zu demonstrieren. Damit erregten sie bald die Aufmerksamkeit und den Neid der Sultane von Delhi, welche die Stadt schließlich erstürmten und das Fort im Jahre 1517 nach ihren Vorstellungen komplett umgestalteten.
Wenn man heute durch die Festung Gwalior wandert, wird der islamische Einfluss deutlich. Er spiegelt sich in den leuchtenden, türkisfarbenen Fliesen an den Sandsteinmauern und den minarettartigen Türmen der Festung wider. Auch die eleganten Kuppeln zeigen deutlich die Prägung islamischer Kunst. Wenn man aus den Bastionen über die trockene und staubige Stadt blickt, kann man sich leicht vorstellen, wie unbesiegbar sich die Sultane und später die Mogule in ihrer Festung auf dem Hügel gefühlt haben müssen. Umso größer mag deren Entsetzen gewesen sein, als die Marathen 1754 Gwalior eroberten und der Architektur daraufhin eine hinduistische Prägung gaben.
Die letzten Besitzer des Gwalior-Forts waren die sagenhaft wohlhabenden Scindia-Familien, deren Nachfahren noch heute im glänzenden, knochenweißen Jai Vilas-Palast südlich der Mauern wohnen. Ganz der heutigen Vorstellung indischer Maharadschas entsprechend, füllten die Scindias ihren verschwenderischer Palast mit ausgestopften Tigern, schmeichelnden Familienporträts und üppigen Kronleuchtern. Letztere waren so schwer, dass der Gewichtstest der Deckenkonstruktion mit Elefanten gemacht wurde, die man an Ketten in die Höhe zog.
Während die muslimischen Herrscher von Gwalior von Macht besessen waren, waren in Khajuraho hinduistische Mogule zu Hause. Ihr Schwerpunkt lag auf der Kommunikation mit dem Göttlichen - und auf Sex. Viel, viel Sex. So liegen heute in Khajuraho einige der extravagantesten und provokantesten Tempel, die jemals in gebaut wurden.
Die Tempel der westlichen Anlage in einem ausgetrockneten Park abseits des Zentrums ähneln einer 3D-Darstellung des Kamasutra, das als hinduistischer philosophischer Text mit ziemlicher Sicherheit großen Einfluss auf die Bildhauer und Architekten der damaligen Zeit hatte. Tempel wie Lakshmana Mandir sind mit exquisiten Reliefs sinnlicher tanzender Mädchen bedeckt und mit menschlichen Figuren beiderlei Geschlechts, die sich in Positionen von überraschender Vielfalt und körperlicher Geschicklichkeit tummeln. Von Sex-Orgien bis Oralsex, mal sinnlich, mal brutal - alles ist detailgetreu in leuchtend gelben Sandstein gemeißelt.
Die Anlage ist aber nicht einfach nur als in Stein festgehaltene Pornografie zu verstehen. Die plastischen Figurengruppen in Khajuraho sind physische Darstellungen des Konzepts von Kama - der Feier der Liebe, des Verlangens und des Vergnügens der Sinne. Damit ist eines der vier Ziele des Lebens in der hinduistischen Philosophie in seiner ganzen Komplexität dargestellt, zusammen mit Dharma (tugendhaftes Leben), Artha (Suche nach Wohlstand) und dem Streben nach Moksha (Befreiung von Unwissenheit und Wiedergeburtszyklus). Verglichen mit der strengen Haltung von Madhyas muslimischen Herrschern könnte die unverhohlene Lebensfreude von Khajurahos sinnlichen Tempeln nicht gegensätzlicher sein.
Auf dem Weg über die Ebene nach Westen in Richtung der einst königlichen Stadt Bhopal - heute Hauptstadt des Bundesstaates - erwartet die Besucher in Sanchi eine vollkommen andere Version der Vergangenheit Indiens. In Sanchi errichtete einst der große buddhistische Kaiser Ashoka eine mächtige Stupa als Buße für das Leid, das er dem damaligen Königreich Kalinga, im heutigen Odisha gelegen, während seiner Besatzung zugefügt hatte. Der historische Buddha lebte und starb in den Ebenen zwischen Nepal und Nordindien, aber es war schließlich Herrscher Ashoka, der den Buddhismus in jeder Gegend des Subkontinents verbreitete.
Im Gegensatz zur Machtdemonstration von Gwalior und der erotischen Fülle von Khajuraho wurde Sanchi aus einer Position der Selbstreflexion heraus errichtet. Von seinem schlechten Gewissen heimgesucht, baute der reuige Ashoka eine der ersten buddhistischen Stupas in Indien und schmückte die Tore rund um die Kuppel mit Steintafeln, welche die Lebensgeschichte Buddhas und Ashokas eigene Läuterung als buddhistischer Konvertit erzählen. Die Figuren hintereinander liegender Löwen, die das südliche Tor stützen, wurden 1947 bei der Unabhängigkeit zum Staatswappen Indiens.
Wer durch die Gärten rund um die große Stupa wandert, findet die Überreste von zahlreichen Tempeln, Klöstern, Hallen und Schreinen, die an Sanchis Status als wichtiges spirituelles Zentrum erinnern. Das Ende Sanchis war jedoch auch nicht würdevoller als das von Madhyas machtsüchtigen hinduistischen und muslimischen Königen. Der wiederauflebende Hinduismus verdrängte den Buddhismus. Die Stätte wurde im 12. Jahrhundert zerstört und Berichte aus einer Zeit nur wenige Jahrzehnte später sprechen von lediglich einer Handvoll übriger Anhänger, die inmitten der gefallenen Säulen und des eingestürzten Mauerwerks die Stellung hielten.
Indien ist voller antiker, einst imposanter Stätten, die vom eitlen Ruhm eines gigantischen Imperiums erzählen. Karnataka hat Hampi, die Haupstadt des einstigen Hindu-Reiches Vijayanagar, und Uttar Pradesh rühmt sich für Fatehpur Sikri, die einst große Hauptstadt, die 1585 vom Mogulkaiser Akbar verlassen wurde.
Das sagenhafte Mandu, heute eine Ruinenstadt, wurde vom afghanischen Gouverneur Dilawar Khan an der Stelle einer besiegten hinduistischen Festung auf einem Plateau im Vindhyagebirge begründet und stieg im frühen 15. Jahrhundert schnell als unabhängiges Königreich zu Macht auf. Seine Herrscher bebauten das Plateau mit Palästen, Moscheen und Mausoleen von auffallender Anmut und Schönheit. Bald wurde Mandu zum Schauplatz eines jahrhundertelangen Kampfes zwischen rivalisierenden Armeen aus Afghanistan, Mogul, Gujarati und Maratha, bevor es in den 1730er Jahren schließlich zerstört und dem Monsunregen überlassen wurde.
Was Mandu von anderen Ruinenstädten in den Ebenen unterscheidet, ist seine Position abseits der Mainstream-Touristenkarte. Es liegt nicht wirklich auf dem Weg von oder nach irgendwo und die meisten Besucher sind Inder. Mit Anbruch der Morgendämmerung ist es tatsächlich möglich, die Ruinen fast ganz für sich zu haben, wenn das Morgenlicht geheimnisvoll durch zerstörte Torbögen in zeremonielle Innenhöfe, auf Stufenbrunnen und ehemalige Vergnügungsparkanlagen fällt. Wer Mandu so erlebt, sollte die Erhabenheit dieser Augenblicke bewahren. Sobald man sich wieder auf die ausgetretene Reiseroute in Rajasthan oder Maharashtra begibt, wird man Madhyas ruhige Größe und Würde vermissen.
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Original-Artikel: Joe Bindloss/Lonely Planet international
Deutsche Fassung: Ines Wagner