Die quirlige japanische Hauptstadt ist ganzjährig eine Reise wert. Ihren größten Zauber jedoch entfaltet sie im Frühling. Das hat gleich mehrere Gründe - wir zeigen, welche.
Wie überall in Japan bedeutet der Frühling in Tokio hauptsächlich "Sakura". Das japanische Wort steht nicht nur für Blüten im Allgemeinen und die zauberhaft rosigen Kirschblüten im Besonderen - es steht für eine Jahreszeit, die den Menschen regelrecht den Kopf verdreht. Sie ist jedoch längst nicht der einzige Grund, ausgerechnet im Frühjahr nach Tokio zu reisen. In den Parks und Gärten der Stadt gibt es auch jede Menge andere traditionelle Feste. Zugleich ist der Frühling Auftaktsaison für die berühmten Sumo-Ringkämpfe, es gibt jede Menge saisonale Köstlichkeiten und noch viele Gründe mehr.
Klar, dass dieser Zeitraum nicht nur viele Besucher aus der ganzen Welt nach Tokio lockt. Die "Goldene Woche" gegen Ende April ist auch die Hauptreise- und Ferienzeit der Japaner selbst. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig ans Buchen zu denken. Insbesondere günstige Unterkünfte sind in diesem Zeitraum rar. Also heißt es: gut planen und schnell sein. In die Goldene Woche 2019 fällt zudem die Inthronisation des neuen Kaisers am 1. Mai 2019. Ganz Tokio wird Kopf stehen bei diesem außergewöhnlichen Ereignis.
Als hätte ein verliebter Maler einen gigantischen Pinsel geschwungen, verwandelt sich der Anblick ganzer Stadtteile Tokios von winterlichem Grau in Rosarot, wenn die Kirschblütenzeit beginnt. Parks wie Yoyogi-kōen und Ueno-kōen sind berühmt für ihre großflächigen Picknicks, in denen nach Herzenslust gegessen wird und nicht wenige Mengen Sake fließen. Die Kirschblüten-Parties werden Hanami genannt. Ganze Gruppen von Familien oder Arbeitskollegen ziehen scharenweise in die Parks, um ein paar Quadratmeter mit ihren Picknickdecken zu besetzen und stundenlang zu feiern. Kein Wunder, denn die allgegenwärtige Blütenpracht ist überwältigend. Besonders hübsch rosa leuchten die Uferpromenaden entlang des Kanals von Naka-Meguro und Meguro-gawa oder am Wassergraben des Kaiserpalastes.
Die Kirschblütensaison, die Ende März oder Anfang April beginnt, ist wie ein rauschendes Fest für die Sinne und zugleich ein kollektiver Anlass, die täglichen Sorgen loszulassen und für den wunderbaren Augenblick zu leben. Die jahrhundertealte, tief in der japanischen Kultur verwurzelte Tradition ist von der flüchtigen Schönheit der Blüten inspiriert und dauert nicht länger als zwei Wochen. Ihre Ausläufer jedoch sprengen den Zeitraum gewaltig. Sakura ist wochenlang allgegenwärtig, in Convenience-Stores und Caféketten, auf Werbeplakaten, in den Mustern der Kimonos, sie schmücken O-Bento-Pakete und alltägliche Dinge jeglicher Art. Vorsicht, der kitschige Rummel um Sakura-chan ist ansteckend.
Die Kirschblüten stehen zwar unbestritten im Rampenlicht, weil sie den Frühling einläuten. In dessen Verlauf sieht man in der Metropole jedoch noch weitere farbenfrohe Blütenmeere. Sie sind dann zwar keine offizielle Ausrede mehr für Trinkgelage im Park am helllichten Tag, ziehen aber noch immer viele Bewunderer an. Von Mitte April bis Anfang Juni, wenn die Regenzeit einsetzt, ist das Wetter schon wärmer und sonniger als während der Sakura-Saison.
Bald nachdem die letzten Kirschen verblüht sind, erscheinen die kühnen, hellen Azaleenblüten (Tsutsuji), die in der Gunst der Frühlingsliebhaber ebenfalls weit oben rangieren. Dem genauen Beobachter wird möglicherweise auch die feine saisonale Veränderung der Kimono-Muster auffallen. Ab der zweiten Aprilwoche bis zur ersten Maiwoche dominiert das üppig-dekorative Buschwerk der blühenden Azaleen das Stadtbild. Der beliebteste Ort, um sie zu bewundern, ist der Shinto-Schrein Nezu-jinja, wo sich ein berühmter Azaleengarten mit rund 3.000 Sträuchern befindet, die über hundert Sorten Blüten tragen.
Kaum sind die Azaleen verblüht, leuchten überall die lavendelfarbenen Blüten der Glyzinien (Fuji-no-hana). Der große und etwas abseits gelegene Schrein Kameido Tenjin am östlichen Rand von Tokio ist der schönste Ort, um sich von ihrem Blütenzauber zu Frühlingsgefühlen verlocken zu lassen. Der Foto-Spot wird zwar von Verliebten und Familien ziemlich belagert, das Motiv jedoch ist tatsächlich das Schönste: Von dort aus lassen sich die gewölbten Brücken des Schreins mit ihrer typischen roten Farbe und den herabhängenden Blütentrauben malerisch einfangen. Der Koishikawa Kōrakuen, der vor allem bekannt für seine herrlichen Pflaumenblüten und das farbige Herbstlaub ist, lockt ebenfalls im Frühling mit unzähligen Glyzinien.
Noch bevor die Sommerregenzeit einsetzt, ist die Iris an der Reihe. Deren Popularität ist Kaiserin Shoken im späten 19. Jahrhundert zu verdanken. Ihr Ehemann, der Kaiser Meiji, pflanzte für sie einen bezaubernden Irisgarten im heutigen Meiji-Jingū Gyoen, der an den Schrein Meiji-Jingū in Harajuku angrenzt. In ihm wachsen exakt 1.500 Irispflanzen. Für die Zahl verbürgen sich die Mitarbeiter des Spaziergartens - die täglich nachzählen. Mit den Regenfällen im Juni entfalten auch die üppigen Hortensien (Ajisai) ihre Blüten. Echte Fans dieser prächtigen, mehrfarbigen Kugeln treten eine Pilgerreise nach Meigetsu-in an, einem Tempel in Kamakura. Die Fahrt von Tokyo aus dauert nur etwa eine Stunde. Das Wahrzeichen Kamakuras ist der beliebte Daibutsu. Die Buddha-Statue aus dem Jahr 1252 ist 13,3 Meter hoch und begehbar.
Im Monat Mai beginnt Matsuri, die Festivalsaison. Dann werden in lebhaften Prozessionen die Götter (Kami) in reichlich mit Blüten geschmückten Schreinen durch die Straßen der Nachbarschaft getragen. Die beliebten Festivals reichen weit zurück - bis zu den Gründungsjahren der Stadt im 17. Jahrhundert. Dementsprechend sind die Träger der Schreine in kostbare traditionelle Gewänder gekleidet. Die farbenprächtigen Happi (kurze Kimono-Jacken aus Baumwolle), Hachimaki (typische Stirnbänder) und reich verzierten Fundoshi (Lendenkleidung, die auch Sumo-Ringer tragen) sorgen zusammen mit den geschmückten Götter-Schreinen für ein eindrucksvolles, farbenprächtiges Getümmel.
Das Festival Sanja Matsuri wird vom Schrein Asakusa-Jinja ausgerichtet. Das größte Festival der Stadt zieht jedes Jahr über eine Million Zuschauer an. Es findet jeweils am dritten Wochenende im Mai statt mit großer Parade am Samstag. In geradzahligen Jahren veranstaltet zudem der Schrein Hie-jinja in Roppongi im Juni den Sannō Matsuri, ein Festival, das ebenfalls sehr beliebt und etwas kleiner ist.
Südlich von Tokio liegt Kawasaki. Eine Reise dorthin lohnt sich vor allem für das alljährliche Kanamara Matsuri, das die Männlichkeit in Form unzähliger Phallussymbole feiert. Wie auch bei anderen traditionellen Festen sieht man hier eine Parade von tragbaren Schreinen, allerdings befinden sich in vielen der Mikoshi statt Götterstatuen riesige Phalli. Kein Wunder, dass dieses Festival heute für einigen Gaudi sorgt und eine fast karnevalhafte Stimmung mit vielen gewagten Kostümierungen herrscht. Dazu gibt es in der ganzen Stadt freche Talismane und mehrdeutige Snacks zu kaufen. Gastgeber des Spektakels ist der Schrein Kanayama-Jinja. Er ist insbesondere bei Paaren beliebt, die für eine glückliche und fruchtbare Ehe beten, aber auch für eine gesunde Schwangerschaft und den Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten.
Das zweite von Tokios drei jährlichen Grand Sumo-Turnieren findet ebenfalls Mitte Mai statt - im nationalen Sumo-Stadion Ryōgoku Kokugikan. Eindrucksvoll sind nicht nur die Kämpfe, sondern auch die reich verzierten Gewänder der Schiedsrichter, die prächtigen, aufwendig bestickten Schürzen der Ringer und das gesamte traditionelle Zeremoniell.
Ein paar Wochen zuvor, Ende April, findet im Schrein Sensō-ji eine eher ungewöhnliche Zeremonie statt: Beim Nakizumo konkurrieren Sumo-Ringer darum, wer mit Grimassen ein Baby am lautesten zum Schreien bringt. Für uns mag das bizarr klingen, in Japan herrscht jedoch der Glaube, dass ein schreiendes Baby groß und gesund wird. Manchmal sind die Babys als winzige Sumo-Ringer verkleidet. Das Fest dient der Segnung der Kinder.
Die Japanische Küche ist für ihre außergewöhnliche Saisonalität bekannt. Auch wenn heute und vor allem in Tokio das ganze Jahr über quasi alle Arten von Lebensmitteln erhältlich sind, so sind die außersaisonalen Leckerbissen doch zumeist ziemlich teuer. Drum bleibt die Ausrichtung der Speisekarte auf jahreszeitliche Zutaten tief im Alltag verwurzelt. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass für eine Bevölkerung, die in den letzten Monaten eine Menge Kohl, Daikon und Mikan (Satsuma-Mandarin-Orangen) gegessen hat, das Erwachen des Frühlings ein wahrer Segen ist. Als erstes Zeichen der wechselnden Saison gelten Menüs mit Takeoko (Bambussprossen). Die zarten, leicht bitteren Triebe werden mit Reis gekocht oder gedünstet. Der Sammelbegriff Sansai ("Berggemüse") fasst unterschiedliche Wurzelgemüsearten zusammen, wie Fukinoto (Pestwurzknospen) und Warabi (Geigenkopffarn). Daraus werden im Frühling besonders leckere Tempura zubereitet.
Auch Spargel, Frühlingszwiebeln, Nanohana (Rapssamen) und Mizuna (eine Art junges Senfgrün) erobern zu dieser Jahreszeit die Regale der Supermärkte und Bauernmärkte. Im Juni kommen dann frische Kirschen auf den Tisch. Sie stammen nicht von den hochverehrten Sakura-Zierkirschbäumen Tokios, sondern aus Obstplantagen im Norden des Landes. Es lohnt sich, in Markthallen und Kaufhäusern nach Sato-Nishiki, Japans beliebtester Kirschsorte, zu suchen. Diese Kirschen sind klein, zinnoberrot wie die Farbe eines Torii-Tors im Schinto-Schrein und glänzend. Dazu schmecken sie herrlich frisch und leicht süß-säuerlich.
Die pulsierende Hauptstadt Tokio ist nur ein Highlight des Landes. Was Japan sonst noch zu bieten hat, steht in unserem Reiseführer "Japan".
Seht ihn euch doch hier einmal an.
Original-Artikel: Rebecca Milner/Lonely Planet international
Übersetzung: Ines Wagner