Ein Spaziergang, wie es im Paris des 19. Jahrhunderts en vogue war, ist wunderbar, um das Flair von Paris zu atmen und sich inspirieren zu lassen. Folge dem Autor Marcel Theroux auf den Spuren der Bohemians auf einem besonderen Spaziergang.
Zur Vorbereitung auf diesen Spaziergang habe ich einen Abstecher zu „Shakespeare and Company“ gemacht, der berühmten englischsprachigen Buchhandlung, die schon in vielen Filmen, darunter in Woody Allens „Midnight in Paris“, eine Rolle spielte. Adam Biles aus Bristols arbeitet dort und ist selbst Schriftsteller. Er verkaufte mir eine Handvoll Bücher über den Flaneur, wie Eric Hazans „Die Erfindung von Paris – kein Schritt ist vergebens“, Edmund Whites „Der Flaneur: Streifzüge durch das andere Paris“ und „Flâneuse: Frauen erobern die Stadt“, von Lauren Elkin, welches dieses Phänomen aus der weiblichen Perspektive betrachtet.
Was ich aus der Lektüre schließe: Flânerie ist das Gegenteil der eilig abgearbeiteten, touristischen Pflichtroute. Vielmehr handelt es sich um ein langsames, nachdenkliches Schlendern, ein Verwandter des Stöberns in einer Buchhandlung.
Nach einem Kaffee an der Rue de Lyon folge ich der Rue Saint-Antoine, die sich durch den Marais schlängelt, dem historischen jüdischen Viertel von Paris. So war die Rue Ferdinand Duval bis ins 20. Jahrhundert als Rue des Juifs bekannt, Judenstraße. Die Gentrifizierung hat neuen Wohlstand und luxuriöse Boutiquen hervorgebracht, aber noch immer ist das jüdische Erbe stark spürbar: Synagogen, koschere Restaurants, Schilder in hebräischer Sprache und Buchhandlungen, die Literatur auf Hebräisch verkaufen. Ein Mann mit einer Kippa bedient Kunden in der Bäckerei „Murciano“, deren verlockende Gerüche nach frischen Bagels durch die engen Straßen von Marais ziehen.
In der „Sacha Finkelsztajn“-Bäckerei treffe ich auf Emma und ihre Mutter Odile Schwak, die sich mit Pastrami-Sandwiches stärken. Emma, Japanisch-Studentin, hat ihre eigene Übersetzung von flâner – es bedeute verweilen. Sie und ihre Mutter denken über Orte nach, die sich hierfür am besten eignen: Odile ist für Montmartre, Emma für das Quartier Latin. Es gibt jedoch ein Ziel, das kein Flaneur auslassen kann: die Passage des Panoramas, eine überdachte Einkaufspassage, die für sich selbst in Anspruch nimmt, eines der ältesten Shoppingcenter der Welt zu sein.
Der deutsche marxistische Philosoph Walter Benjamin, der ab 1933 im Pariser Exil lebte, befasste sich intensiv mit den Passagen, weil er glaubte, sie geben das Geheimnis des modernen Kapitalismus preis. „Die Arkade ist eine Stadt“, schrieb er, „eine Welt in Miniaturform.“ Als Flaneur sammelte Benjamin Hintergründe über ebendiese Pariser Passagen, Straßen und Warenhäuser. Er sah sich als reisender philosophische Detektiv, der herumwanderte und Einsicht in die wahre Natur des modernen Lebens gewann.
Mit ihren nicht zueinander passenden Bodenfliesen und Staubschichten auf den einst innovativen Gaslampen ist die Passage des Panoramas nicht länger der zeitgenössische Konsumtempel, doch ihr nostalgischer Charme verströmt Flair. Tauben flattern im Glasgewölbe, die Seitengänge kommen ein wenig melancholisch daher, aber die Hauptgalerie ist auch 200 Jahre nach der Revolution des Einzelhandels noch geschäftig. Sie beherbergt eine ungewöhnliche Auswahl an Geschäften – Philatelisten, Juweliere und Spezialisten für Ansichtskarten. Eine Handvoll neuer Lokale und „Noglu“, eine glutenfreie Pâtisserie, lassen vermuten, dass sie sich wieder neu erfindet.
Genau entlang dem Boulevard Montmartre befindet sich eine andere überdachte Arkade, die Passage Jouffroy. In einer kleinen Boutique auf der rechten Seite empfängt die „Galerie Fayet“, dem letzten in Paris verbliebendem Hersteller von Spazierstöcken.
„Wir sind das Sinnbild des Flaneurs!“, erklärt die Geschäftsleiterin Ako Sato. Sie ist eine Pariserin, die ihrem japanischen Vater den Namen verdankt. Ich verbringe außerordentlich informative 45 Minuten mit ihr. Wir sprechen über die faszinierende Schnittmenge von französischer Geschichte, Flânerie und Spazierstöcken.
Sie erklärt, dass der Stock immer ein Modeaccessoire war: er diente dem Posieren, als Stütze, zum Gestikulieren, zum Unterstreichen der Argumente, jedoch niemals als Krücke. Er war ein Symbol dafür, dass der Besitzer das Erstrebenswerteste innehatte: Muße. „Ich liebe es, zu flanieren, aber mir fehlt die Zeit dazu“, sagt Ako und fügt hinzu: „Dabei ist es eine wundervolle Art und Weise, sich umzusehen, das Urbane zu atmen und zu entdecken. Man sieht Dinge, die man nicht bemerkt, wenn man irgendwohin eilt – und Paris hat so viel zu bieten!“
Text: Marcel Theroux, Fotografie: Adrienne Pitts
Weitere Spaziergänge durch Paris findest du in der Oktober/November-Ausgabe 2019 des Lonely Planet Magazins: Es geht entlang der Kanäle und wir verraten dir einen kleinen geheimen Bummel.
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