Der abgelegene Norden Neuenglands ist die Heimat einiger der beeindruckendsten Säugetiere der USA. Eine Entdeckungstour auf den Spuren der mächtigen Elche.
Das Gebiet der Great North Woods in Maine, Neuenglands nördlichster und größter Bundesstaat, ist eine stark bewaldete Wildnis, in der die Natur für eine lange Zeit die Oberhand hatte. Nicht umsonst hat Maine den Beinamen Pine Tree State. Neben den Wäldern gibt es unzählige Seen, Flüsse, Berge und Inseln. Die größte ist Mount Desert Island und bekannt für den rund 16.000 Hektar großen Acadia Nationalpark. Im Winter ein Wonderland und wie gemacht für Schneeschuhwanderungen und Klettertouren entlang der gefrorenen Wasserfälle. Auf den Seen kann man Eisangler sehen, die die Kälte nicht zu bemerken scheinen.
Im Frühling macht der Schnee wie durch Zauberhand Platz für ein buntes Farbenspektrum und haucht wieder Leben in die Bäume und Gewässer. Bis Ende Juni gesellen sich zu den wenigen Wanderern, Anglern, Sammlern und Jägern, die sich zum größten See in Maine, dem Moosehead Lake an Kanadas Grenze wagen, auch Vierbeiner: aus dem Winterschlaf erwachende, hungrige Schwarzbären sowie die größte Elchpopulation, welche der amerikanische Kontinent zu bieten hat. Es gibt so viele Elche mit stolz geschwellter Brust, dass man seinen Augen mitunter kaum trauen mag. Manche sind groß wie Totempfähle, andere wiederum stärker als ein Grizzly. Ein ausgewachsener Bulle bringt bis zu 700 Kilo auf die Waage, viermal so viel wie ein durchschnittliches Rentier. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich meine Elchsafari beginne.
Zusammen mit dem Rest der Gruppe bahne ich vorsichtig meinen Weg durch ein Wirrwarr von Wurzeln und flechtenbedeckte Baumstämme. Wir kreuzen einen moosbewachsenen Waldboden, über dem das Licht durch die Baumkronen kriecht und erreichen schließlich einen See, dessen Oberfläche wie ein polierter Spiegel aussieht.
Das Wasser reflektiert die ausgedehnten Wälder, die sich über vier Staaten bis nach Québec erstrecken.
Solche Flecken waren üblicherweise das Ressort amerikanischer Literaten – wie Henry David Thoreau, der vor 150 Jahren der Welt den Rücken kehrte, um ganz ungestört zu sein und über seine Durchquerung des Maine Woods-Gebiets zu schreiben. Seitdem inspirierten seine Schriften Naturalisten und Fliegenfischer. Hier ist so viel Natur, dass es Besuchern leicht fällt, einen eigenen Fleck für etwas Abgeschiedenheit zu finden.
Es ist einfach, sich in dem grünen Dickicht zu verlaufen. Die Bäume sind so groß, dass sie die Sonne abschirmen. Gut möglich, dass wir auf einen gefräßigen Bären stoßen, der am Wasserufer trinkt oder auf eine kalbende Elchmutter, die ihren Nachwuchs beschützt. Wenn beide aufeinandertreffen, können die Beine des Elches das Rückgrat des Bären wie einen Zahnstocher zerbrechen. Das erfahre ich später von unserem Gruppenführer Chris Young. Neben seinem Elch-Knowhow kann sich Chris auch mit dem Titel „Nationaler Elchruf-Meister“ schmücken.
Bei diesem Wettkampf werden Teilnehmer anhand ihrer Fähigkeiten beurteilt, Elchrufe zu imitieren. Chris hat 35 Jahre damit verbracht, durch die Wälder zu streifen und entlang von Tannen, Kiefern und Nadelhölzern über Teiche zu paddeln und ist den Elchen näher als seinen Nachbarn zu Hause. Da der Wald, der seine Heimatstadt Greenville umgibt, 25.000 dieser Geschöpfe beheimatet (15 Mal mehr als die dortige Bevölkerung) ist dies vielleicht verständlich.
Die Nachahmung ihrer Rufe ermöglicht es Chris, eine Verbindung zu den Tieren herzustellen und sie aus der Dunkelheit zu locken. Während der Ruf des Rothirsches eine Melodie erkennen ließe, würden Elche nicht singen, erklärt er. Die Geräusche würden eher komisch klingen. Als Elchrufer kann Chris sie nachahmen, indem er die Stille der Dämmerung mit einem aggressiven Schrei bricht, ähnlich einer Star Wars-Figur auf Doping, oder mit einem sanfteren, rasenmäherartigen Grunzen eines Kalbes in Not.
„Die Nackenhaare sträuben sich, wenn ein Elch aus dem Wald herauskommt“, sagt Chris. „Aber ich bin noch nie einem begegnet, den ich nicht beruhigen konnte.“ Plan B? „Wir müssen einen Baum finden – und zwar schnell.“
Um zu Chris’ Lieblings-Elchbeobachtungsposten zu gelangen, fährt man stundenlang mit dem Auto, auf Forststraßen und vorbei an Feldwegen, die von überaktiven Biebern geflutetet wurden. Auf diese Weise haben wir über 70 Kilometer zurückgelegt. Auf einer Karte würde der Kopf einer Stecknadel dieses Gebiet gerade bedecken, aber selbst die Überwindung einer so kurzen Strecke wird in abgelegener Wildnis zu einem epischen Unterfangen.
Die Dämmerung setzt ein, jene Stunde, in der Elche am aktivsten sind. Wir nehmen ein abgeflachtes Kanu für eine Runde um einen der glutrotgefärbten, 1001 Waldseen. Bäume, grün und taubedeckt, säumen das Ufer und werden bald von einer Bergreihe abgelöst, welche das Rückgrat der Great North Woods bilden. Weißschwanzwild und wilde Hasen erscheinen flüchtig am Wasserrand, während ein jagendes Falkenpaar kopfüber durch die Luft schnellt. Doch jetzt ist es Zeit für den Auftritt der wahren Protagonisten, die sich bisher noch bedeckt hielten.
„Pssst“, flüstert Chris alarmiert, den Blick in den Wald gerichtet. „Die Elche werden beim leisesten Rascheln vertrieben“, sagt er und weist auf die Uferlinie und eine Mauer dichter Vegetation. Irgendetwas hat er gesehen, was ihn so in den Bann zieht, dass er sein Fernglas fallen lässt.
Ich suche das Ufer ab, sehe jedoch nichts. Kurze Zeit später ertönt ein langes, gewundenes Grunzen vom Elchrufer, das zu einem scheußlichen Gurgeln wird und in ein Basstrillern übergeht, welches das Kanu erbeben lässt. „Hört ihr das?! So macht man einen Elch auf sich aufmerksam.“ Als Antwort tritt ein muskelbepackter Bulle ins Blickfeld, der locker eine halbe Tonne schwer ist und ausgestattet mit einem Geweih, das an einen Schneepflug erinnert. Er ist sowohl kraftvoll als auch elegant, mit einem massiven, tiefhängenden Bauch.
Während wir zurück zum Ufer paddeln, erzählt Chris, dass die größten Chancen auf Elchsichtungen in den Great North Woods im Herbst sind. Dann verlassen die Tiere den Schutz der Wälder, wobei sich ihre glänzenden Geweihe im Kampf gegen andere Bullen ineinander verhaken. „Anstatt die Tiere rufen zu müssen, bringen sie die Show zu uns.“
Auf der anderen Seite eines nahegelegenen Sees hören wir das ferne Echo eines Elchs irgendwo tief im Wald. Zusammen mit tausenden anderen wird er bald in der Dunkelheit der Nacht verschwinden und sich dem Schlaf hingeben.
Dies ist ihr Reich und wir hatten Glück, es für einen Augenblick betreten zu dürfen.
Text: Mike MacEacheran.
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