Der Klimawandel bringt weltweite Veränderungen - besonders für den künftigen Städtebau. Das sagen Experten im Gespräch mit Lonely Planet.
Der Norden Indonesiens wird schon in 10 Jahren unter Wasser stehen. Deshalb plant die Regierung, ein neues Kapitel aufzuschlagen: Sie möchte eine neue, umweltfreundliche Stadt errichten, die den Ansprüchen des Klimawandels standhält. Wie kann diese aussehen?
Wer Jakarta in den kommenden Jahren besuchen möchte, muss vielleicht schon einen Schnorchel mitnehmen. Die 30-Millionen-Stadt auf der Insel Java kämpft gegen den ansteigenden Meeresspiegel bei gleichzeitiger Absenkung des Bodens, auf dem sie erbaut wurde. Voraussichtlich wird Jakarta die erste Megacity der Welt sein, die durch den Klimawandel unbewohnbar wird.
Offenbar mit Jakartas Schicksal bereits abgefunden, plant die indonesische Regierung, die Hauptstadt künftig nach Borneo zu verlegen. Das bietet Indonesien eine einmalige Gelegenheit: komplett neu zu definieren, was Städtebau in einer Zeit bedeutet, in der der Klimawandel auf der einen Seite und neue Technologien auf der anderen Seite unser Leben verändern. Aber wie würde eine wirklich zukunftsfähige Stadt aussehen?
Der Aufbau einer Stadt, die an neue klimatische Gegebenheiten anpassungsfähig ist, erfordert Zukunftsvisionen und jede Menge Innovationen. Namhafte internationale Experten sprechen sich dafür aus, Low-Tech-Lösungen einzusetzen, um Herausforderungen wie dem Klimawandel zu begegnen.
"Die Vorstellung, all unsere Probleme technologisch zu lösen, ist fehlgeleitet", meint Shoshanna Saxe, Assistenzprofessorin am Department of Civil and Mineral Engineering der University of Toronto. "Für viele der Herausforderungen, mit denen sich unsere Städte konfrontiert sehen, gibt es großartige, natürliche Low-Tech-Lösungen. Dazu gehört beispielsweise die Wiederherstellung von Feuchtgebieten für den Hochwasserschutz. Feuchtgebiete können sogar als natürliche Kläranlage fungieren, erklärt sie und nennt ein Beispiel aus Indien: "In Kolkata ‘verarbeiten’ in Sümpfen lebende Fische etwa die Hälfte des menschlichen Abfalls der Stadt.”
Julia Watson, Autorin von ‘LO-TEK. Design by Radical Indigenism’, glaubt, dass es wichtig ist, auf traditionelles ökologisches Wissen zurückzugreifen und "Städte zu entwerfen, die die Integrität des Ökosystems, in dem sie sich befinden, nicht gefährden". Wenn Indonesien sich für den Neubau entscheidet, sei es entscheidet, die Biodiversität Borneos zu wahren. Dort ist der vom Aussterben bedrohte Orang-Utan beheimatet.
Traditionelle Technologien, die von indigenen Gemeinschaften entwickelt wurden, werden im Westen häufig als primitiv abgetan. Dabei erweisen gerade sie sich häufig angesichts des Klimawandels als besonders wirksam. Ein Paradebeispiel sind die Sawah-Tambak in Ost-Java. Dort bauen die Landwirte auf sogenannten Reis-Fisch-Farmen den Reis und ihre Zuchtfische symbiotisch an - und reagieren so auf die Wasserschwankungen in Hochwassergebieten. Diese Praxis ist vermutlich mehr als 2.000 Jahre alt.
"Das sollte ein Vorbild für Stadtplaner sein", argumentiert auch Watson, der in Harvard Städtebau unterrichtet. Städte sollten künftig so gestaltet werden, dass die Strategien zum Schutz vor Überschwemmungen die lokalen Umweltgegebenheiten, die Kultur sowie die regional verfügbaren Ressourcen mit einbeziehen. Das bedeutet aus seiner Sicht nicht den Ausschluss moderner Technologien, die wichtig sind, um beispielsweise erneuerbare Energien zu nutzen und den autonomen Verkehr weiterzuentwickeln.
Bei der Planung der neuen Hauptstadt tun indonesische Beamte gut daran, eine tückische Falle zu umgehen, in die die meisten, insbesondere neu errichteten Städte geraten sind. Sie haben den öffentlichen Raum für Autos gestaltet, nicht für Menschen. Daher ist der Weg zur städtischen Utopie leider oft mit Verkehr verstopft.
"Neue Städte wie die brasilianische Hauptstadt Brasilia, die auf dem modernistischen Traum vom Auto beruhen, sind völlig gescheitert", bestätigt auch Dr. Robert Hickman, Dozent an der Bartlett School of Planning am University College London. "Wir müssen aus dieser Erfahrung lernen und Städte um ein nachhaltiges öffentliches Verkehrssystem herumbauen."
Die für Autos erforderliche Stadtarchitektur verbraucht viel Platz, der für Radwege, Gehwege, Wohnungen, Parks, Cafés, Geschäfte, Spielplätze und anderes genutzt werden könnte. Genau diese Plätze sind es, die die Menschen dazu ermutigen, miteinander und mit ihrer Umwelt zu interagieren. Die gute Nachricht ist, dass sich der Autoverkehr aus vielen großen Metropolen zurückzieht, darunter auch aus Barcelona und Gent. Dort "wachsen” mittlerweile Bars und Restaurants auf ehemaligen Autobahnen und Gärten auf einstigen Parkplätzen.
"Städte wurden erst von Autos überrollt und jetzt werden sie davon wieder befreit", erklärt Jan Gehl, Autor von ‘Cities for People’ und Professor für Städtebau an der School of Architecture in Kopenhagen. Er weist darauf hin, dass die dänische Hauptstadt diesen Trend bereits in den 60er Jahren begonnen habe. Heute wird sie regelmäßig als die lebenswerteste Stadt Europas eingestuft.
Neben der Verbesserung der Lebensqualität scheint es sich sogar für die Wirtschaft positiv zu auszuwirken, Autos aus den Stadtzentren zu verbannen. In Gent wurde beispielsweise ein Anstieg um 17 Prozent bei den Startups von Restaurants und Bars verzeichnet, nachdem die Autos in der Innenstadt verboten wurden. "In einer autofreien Stadt kann man immer noch eine boomende Wirtschaft haben", ist sich Jan Gehl sicher.
Wenn du könntest, würdest du dich zur Arbeit teleportieren? Eine kürzlich durchgeführte Umfrage stellte genau diese Frage den Pendlern in Portland, Oregon. Nur 28 Prozent der Fußgänger und 35 Prozent der Radfahrer antworteten mit Ja, verglichen mit 73 Prozent der Autofahrer und 66 Prozent der Pendler mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Umfrage legt nahe, dass die Menschen mehr Wert auf das Pendeln legen, wenn sie unmotorisiert unterwegs sind und mit dem Arbeitsweg vielleicht auch noch einen gewissen Sport- oder Erholungseffekt verbinden.
Die Förderung des nicht motorisierten Verkehrs ist von entscheidender Bedeutung, wenn die Städte die Klimakrise bewältigen und die öffentliche Gesundheit verbessern wollen. Das bedeutet, städtische Gebiete für Fußgänger und Radfahrer zugänglicher zu machen. Auch hier ist wieder Dänemark führend, gemeinsam mit den Niederlanden. Städte in anderen Ländern beginnen aufzuholen.
Jan Gehl ist besonders beeindruckt von Melbourne "Dort haben sie breite Bürgersteige mit Bäumen und schönen Pflastersteinen angelegt, um die Menschen zum Gehen zu ermutigen", sagt er. "Sie haben dort die weltweit beste Stadtmöblierung, die sowohl bequem als auch schön anzusehen ist. Außerdem hat die Stadt Regeln erlassen, nach denen neue Häuser nicht nur nach Kostenaspekten gebaut werden sollen, sondern auch die Architektur sollte interessant sein."
Auch bezahlbarer Wohnraum ist für eine lebendige, moderne Stadt von entscheidender Bedeutung - und eine Regulierung seitens der städtischen Behörden kann dabei unterstützen. "Alle neuen städtebaulichen Entwicklungen müssen einen hohen Anteil an erschwinglichen Wohnraum berücksichtigen", fordert Dr. Robert Hickman. "In der Stadt dürfen keine Enklaven geschaffen werden, die nur für eine Bevölkerungsgruppe bestimmt sind. Das schafft Probleme."
Der Bürgermeister von Paris kündigte kürzlich Pläne an, die französische Hauptstadt in eine "15-Minuten-Stadt" zu verwandeln. Die Idee ist, dass die lokalen Gemeinschaften weitgehend autark werden und sowohl attraktive Arbeits- als auch Freizeitmöglichkeiten direkt vor der Haustür geschaffen werden.
Ein solches Konzept wird auch von Dr. Robert Hickman unterstützt, der fordert, Großstädte sollten nicht monozentrisch gestaltet sein: "Was wir wirklich brauchen, ist eine Reihe von einzelnen Stadtzentren, in denen der lokale Einzelhandel, die Freizeitaktivitäten, Bildungs- und Arbeitsangebote attraktiv und für alle zugänglich sind", sagt er, "dann gibt es weniger Bewegung innerhalb der Stadt". Solche Zentren sollten durch Radwege, Gehwege und ein feinmaschiges, erschwingliches öffentliches Verkehrssystem verbunden sein, wie es beispielsweise in chinesischen Städten schon umgesetzt wird.
Das wachsende Bewusstsein für die Umweltauswirkungen der Landwirtschaft und das zunehmende Interesse an der Gastronomie haben den Stellenwert regional produzierter Lebensmittel erhöht. Die Landwirtschaft in städtische Gebiete zu bringen setzt diesen Trend fort. Viele Städte haben bereits ihre eigenen Landwirtschaftsbetriebe. So wurde in Rotterdam beispielsweise kürzlich eine schwimmende Milchfarm eröffnet.
Die Anlage liegt im Hafen und beherbergt 35 Kühe, die mit Bioabfällen gefüttert werden. Darunter sind auch die Grünabfälle aus den städtischen Parks und die Kartoffelschalen aus der Rotterdamer Pommes-Industrie.
"Unsere Kühe fressen die Biomasse-Rückstände aus der Stadt und wandeln sie in frische, gesunde Milch und Joghurt um", erklärt Minke van Wingerden, Mitgesellschafter der Farm. Er plant bereits die Erweiterung um Gemüse- und Hühnerfarmen in der Stadt.
Offshore-Landwirtschaft ist nichts Neues. Kommunen in Bangladesch, Mexiko und Indien bauen seit Generationen Lebensmittel auf schwimmenden Farmen an. Van Wingerden in Rotterdam glaubt, dass sich das Konzept mit steigenden Gezeiten durchsetzen global weiter durchsetzen wird.
Die Vorhersage, wie Städte der Zukunft aussehen werden, ist natürlich nicht leicht zu treffen. Für Jan Gehl indes ist die Richtung des Fortschritts klar. "Zunehmend gibt es eine Bewegung hin zu lebenswerten und lebendigen Städten, in denen das öffentliche Leben und die Gemeinschaft im Fokus steht", sagt er und verweist darauf, dass dieser Trend bereits um das Jahr 2000 begonnen habe. "Die modernistische Architektur und Motor-orientierte Stadtplanung hat lange genug gedauert, die Leute haben das Ergebnis satt."
Ob die indonesische Regierung ihr neues Kapital tatsächlich "grün", "sauber" und mit der "neuesten Technologie" aufschlagen wird, auch wenn sie letztlich stark von privaten Auslandsinvestitionen abhängig ist, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass das neue Jakarta nicht wie das alte sein muss, um in der modernen Welt zu erblühen und den Klimawandel zu überleben.
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Original-Artikel: Gavin Haines/Lonely Planet international
Deutsche Fassung: Ines Wagner