Der Jordan-Trail: Auf den Spuren der Propheten und Hirten geht’s auf dem Fernwanderweg durch verlorene Städte, Trockentäler und einige der wildesten Gegenden des Nahen Ostens.
Es gint keinen Teil dieses Planeten, der sich für Wanderungen schlechter eignet als der Nahe Osten. Wer morgens mit einem Rucksack und einem Sandwich zum Spaziergang aufbricht, stößt wahrscheinlich recht bald auf Kontrollpunkte, Stacheldraht und Uniformträger, die streng dazu auffordern, sofort umzukehren. Würde Abraham im Jahre 2020 nach Kanaan reisen, müsste er zwei Kriegsgebiete und drei Gegenden durchqueren, in denen seine Standardreiseversicherung nicht greift. Würde Moses heute die Flucht aus Ägypten anführen, hätte er das ganze Buch Exodus damit verbracht, in der Warteschlange Däumchen zu drehen, während 600.000 Israeliten mehrere Hochsicherheitsgrenzen passieren.
All das macht die Erschaffung des Jordan Trails zu etwas Wunderbarem. Es handelt sich um einen neuen Fernwanderweg, der die gesamte Länge des friedlichsten Landes im Nahen Osten abdeckt. Er erstreckt sich über 640 Kilometer, von den grünen Obstgärten im Norden bis zum Zusammentreffen von rotem Sand und Rotem Meer im Süden. Er bietet einen seltenen Einblick in das Wandern in einem Land mit einer illustren Wandergeschichte: Propheten des Alten Testaments mit krummen Stäben, barfüßige Pilger auf Reisen nach Mekka. Und auch Mohammed Al Homran, mein leise sprechender Guide, der vor Kurzem Geschichte schrieb als Teil der ersten Gruppe, die die gesamte Länge des Jordan Trails zu Fuß zurücklegte. Er verlässt sein Zuhause nie ohne Teekanne und Flöte im Rucksack.
„Laufen ist mein Leben.“ Mohammed strahlt und springt in der Morgensonne über die Felsbrocken im Wadi Dana (Wadi = Trockental). „Manche Leute sagen mir, dass sich meine Füße sogar im Schlaf bewegen.“
In seinen neongelben Turnschuhen und der schwarzen Kufiya wird er mich auf einem 80 Kilometer langen Abschnitt des Jordan Trails vom Bergdorf Dana im Süden zur antiken Stadt Petra führen. Mein Reiseführer wuchs in Madaba auf, in der Nähe des Berges Nebo, von dessen Gipfel aus Moses im Buch Deuteronomium das Gelobte Land erblickte und dann im Alter von 120 Jahren tot umfiel. Bis vor einigen Jahren arbeitete er als Hirte – führte seine Herde zwischen den Hügeln am Toten Meer entlang und sang ihr nachts etwas vor, damit sie wusste, dass sie in Sicherheit ist. Vor vier Jahren hörte er von dem neuen Jordan Trail und bewarb sich um eine Stelle. Heute hält er Wanderer für leichtere Kunden als Ziegen – jedenfalls meistens.
Nur wenige Abschnitte des Weges sind schöner als das Wadi Dana. Wir durchqueren grüne Schluchten, in deren Vertiefungen Mistelzweige sprießen und Pistazienoder Feigenbäume um versteckte Quellen herumwachsen. Im oberen Teil des Tals liegen Dörfer, die in kalten Wintern unter tiefen Schneeschichten begraben werden, im unteren Tal liegt die brennend heiße Wüste des Wadis Araba – das nördliche Ende des Großen Afrikanischen Grabenbruchs, wo Fliegen um dornige Akazienbäume schwirren. Selbst Kenner der Region wären von der Wildnis des Wadis Dana überrascht. Es ist eine Landschaft, die seit biblischen Zeiten auf Werkseinstellung verblieben ist.
Eine lokale Legende besagt, dass Jesus Christus auf seinen Wanderungen unter den Eichen des Wadis Dana ruhte. In diesem Moment ist es jedoch ein Mann namens Salem Ali AlNaanah, ein Parkranger, der im Schatten sitzt und eine Zigarette raucht.
„Dies ist das letzte Stück Wildnis im Nahen Osten“, erklärt Salem, während er ein Fernglas auf eine kleine Wüsteneule auf einem Felsen richtet. „Jedes Mal, wenn ich hier unterwegs bin, möchte ich frei wie die Vögel leben. Einfach unter dem Felsen schlafen und nichts mit mir herumtragen, außer vielleicht einer Packung Sardinen.“
Salem war früher Leutnant in der jordanischen Armee und wuchs im Wadi Dana auf. Vor langer Zeit exportierte seine Familie hausgemachtes Olivenöl auf Eseln nach Jerusalem, wo es zum Anzünden der Straßenlaternen der Heiligen Stadt verwendet wurde. Heute ist er ein Hüter des Biosphärenreservats Dana und hilft dabei, den bedrohten Nubischen Steinbock zu schützen, dessen Hufe man in den Schluchten klappern hört; oder die Gänsegeier, die in den Luftströmen über uns ihre Kreise drehen.
Salem kennt sich auch mit Dschinns aus. Das sind übersinnliche Wesen, die aus rauchlosem Feuer erschaffen sind, Flaschengeister, von denen es im Wadi Dana einige gibt und die nur in Ausnahmefällen sichtbar werden. Ein Einheimischer beschwerte sich kürzlich, dass ein Dschinn Steine auf ihn warf, als er mit seinem Handy telefonierte (der Geist hätte sofort damit aufgehört, sobald er Verse aus dem Koran zu rezitieren begann). Ein anderer Dschinn lebt laut Salem in einer nahe gelegenen Höhle und erschlägt Eindringlinge. Diese beiden sind jedoch nicht repräsentativ.
„Dschinns sind wie Menschen: Es gibt gute und schlechte“, sagt Salem Ali AlNaanah. „Natürlich glaubt hier niemand an Geister. Aber jeder glaubt an Dschinns.“
Text: Oliver Smith, Fotografie: Justin Foulkes
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